Der Krapfen-Effekt:
Wie das süße Leben zurückkehren soll

Roland Gruber hat mit seinem Team zahlreiche Architekturpreise gewonnen. Lieber als einfach nur schöne Häuser zu planen und zu bauen entwickelt er lebendige Lebensräume im Zentrum von Kleinstädten und Dörfern.

Sommertheater in Haag: Eine temporäre Tribüne direkt am Hauptplatz sorgt für überregionale Aufmerksamkeit.
© nonconform

Sommertheater in Haag: Eine temporäre Tribüne direkt am Hauptplatz sorgt für überregionale Aufmerksamkeit.

Roland Gruber ist beruflich viel unterwegs. Wenn er durch Deutschland reist, hat er immer eine ganz besondere Landkarte dabei. Darauf ist verzeichnet, wie der Krapfen in verschiedenen Regionen des Landes genannt wird – zum Beispiel Pfannkuchen (in Berlin), Berliner (im Rheinland), Puffel (in Aachen) oder Kreppel (in Hessen). Denn Roland Gruber ist der Erfinder des Krapfen-Effekts und natürlich möchte er überall richtig verstanden werden. 

Gruber hat den Krapfen-Effekt erdacht, um den Donut-Effekt umzukehren. Mit dem Donut-Effekt beschreiben Fachleute seit vielen Jahren das Phänomen, dass Ortskerne ausbluten, während an den Rändern immer neues Bauland ausgewiesen wird, um den Bevölkerungsschwund zu bremsen und neues Gewerbe, Handelsflächen und Wohnbauten anzusiedeln. Es ist eine sich selbst verstärkende negative Spirale. Am Ende ist im Zentrum viel Leerstand und von der Nutzung her nichts mehr los, also ein Loch wie bei einem Donut. Roland Gruber findet dagegen, dass das Beste – das Leben und nicht die Leere – in die Mitte gehört. Genau wie die Marmelade bei einem Krapfen.

Eine Regel aus der Kindheit: „Sei immer nett zu den Gästen“

Roland Gruber weiß, wovon er spricht. Er ist 1972 in Bad Kleinkirchheim in den Kärntner Nockbergen geboren und wuchs dort auf, wo andere Urlaub machen. Die Nachbarschaft war eine Mischung aus Bauern und Hoteliers. Gruber erlebte wie der Tourismus den Ort veränderte. „Aus vielen bescheidenen Bauernhäusern wurden riesige Hotels und in der Saison wurde für eine gewisse Zeit aus dem Dorf eine multikulturelle und pulsierende Stadt mit vielen Nationalitäten“, erinnert er sich. „In den 1960er und -70er Jahren ist Bad Kleinkirchheim praktisch explodiert.“ Heute verfügt der Ort mit knapp 1900 Einwohnern über 6700 Gästebetten. Eine besondere Regel aus seiner Kindheit hat Gruber heute noch fest im Kopf: „Sei immer nett zu den Gästen.“

Schon als junger Mann ärgerte er sich oft, dass sein Heimatort nur auf ein einziges Ziel hin ausgerichtet schien, nämlich für Touristen attraktiv zu sein. Dass sich das Leben der Einheimischen in den vielen Tourismusorten den Bedürfnissen der Besucher unterordnen musste, hält er auch heute noch für einen Fehler. „Schließlich wollen die Gäste doch Teil eines funktionierenden Ortslebens sein und nicht nur eine Kulisse vorgesetzt bekommen,“ meint er. Mit 20 Jahren verließ Gruber seinen Heimatort und ging zum Architekturstudium an die Kunstuniversität Linz und an die ETH Zürich.

Die Freiheit der Universität war der große Traum 

Neues für Stadt und Land: Das nonconform-Team bei der Arbeit.
© Katharina Roßboth

Neues für Stadt und Land: Das nonconform-Team bei der Arbeit.

Niemand aus seiner Familie hatte vor ihm mit Architektur zu tun. „Vielleicht kommt mein Interesse daher, dass ich mich immer gern mit Kunst beschäftigt habe“, vermutet Gruber. „Auch qualitätsvolle Räume und Materialien haben mich immer interessiert. Und Architektur ist eine Kombination aus Kunst, Raum und Materialität.“ Mit dem Umzug nach Linz kam er an einen Ort, wo seine Perspektiven in alle Richtungen geöffnet wurden. „Das war mein Traum, genau da wollte ich hin“, sagt er. Die Ausbildung an der Kunstuniversität sei großartig gewesen, fast wie im Paradies. Viel Freiheit gepaart mit familiärer Atmosphäre, Förderung des kritischen Denkens und des Eigenengagements, wertvoller Input von anderen Kommilitonen und vor allem auch von den Professoren, deren Ziel es gewesen sei, die Stärken jedes einzelnen zu stärken. 

Gemeinsam mit Peter Nageler gründete Gruber 1999 das Architekturbüro nonconform. Es versteht sich als „Büro für Architektur und partizipative Raumentwicklung“, das „ausgetrampelte Wege verlässt und mit Beteiligung der Bürger und Nutzer in der Planung neue nutzungsoffene Räume, Plätze und urbane Gebäude schafft und nachhaltig handelt“. Ziel ist es, ein gutes Leben am Land und in der Stadt zu ermöglichen. Dabei liegt der Fokus auf der Gestaltung der Prozesse, die zu solchen lebendigen Lebensräumen führen. Denn Gruber hat oft beobachtet, dass gut gemeinte Projekte daran scheiterten, dass sie von den Menschen, für die sie gedacht waren, nicht verstanden und daher abgelehnt wurden. 

„Ein schön gebautes Haus am falschen Ort ist ein schlecht gebautes Haus“

Im der saarländischen Illingen wird aus einer Wurstfabrik ein Zentrum mit Wohnungen, Arztpraxen und Freizeitangeboten.
© nonconform

Im der saarländischen Illingen wird aus einer Wurstfabrik ein Zentrum mit Wohnungen, Arztpraxen und Freizeitangeboten.

Gruber hat Freude an guter Architektur, liebt lichtdurchflutete großzügige Raumkonfigurationen und streichelt gern edle Materialien. „Aber in meiner Arbeit geht es nicht nur um den perfekten Raum oder das schöne Haus, sondern es geht vor allem um den Kontext, die Gestaltung der Beziehungen zur Nachbarschaft“, sagt er. „Ein schön gebautes Haus am falschen Ort ist ein schlecht gebautes Haus.“ In seiner Auffassung spricht die Architektur mit der Umgebung und es ist wichtig, dass diese Sprache von den Menschen vor Ort auch verstanden wird. Darum hat nonconform Prozesse entwickelt, die Menschen von Anfang an in die Planung von Räumen einzubinden. Wenn dann klar ist, was die Bewohner wünschen und brauchen und vor allem welche Bedürfnisse dahinterstehen, dann können die Experten von nonconform entsprechende räumliche Lösungen entwickeln.

Zum Beispiel für die Gemeinde Illingen im Saarland: In einem Ideenfestival unter hoher Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger entstand ein Nutzungskonzept und Gestaltungsvorschläge für ein zwölf Jahre leerstehendes Fabrikgebäude inmitten des Ortskerns . Nun entsteht hier ein attraktives neues Zentrum mit Wohnungen, Einkaufsmöglichkeiten, Arztpraxen, Kneipen, Restaurants und Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr.

„Das Modell Fließ steht für den gelebten Krapfen-Effekt“

Nutzungsvielfalt, höchste Baukultur und gelebte Partizipation: Die neue Ortsmitte in der Tiroler Gemeinde Fließ wurde mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis ausgezeichnet.
© nonconform

Nutzungsvielfalt, höchste Baukultur und gelebte Partizipation: Die neue Ortsmitte in der Tiroler Gemeinde Fließ wurde mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis ausgezeichnet.

Oder für die Tiroler Berggemeinde Fließ: Dort gab es über viele Jahre Leerstand in der Ortsmitte, ein klassisches Donut-Loch entstand. Hier erwarb die Gemeinde ein leerstehendes Ensemble, um daraus ein Dorfhaus-Ensemble zu machen, in dem man wohnen, arbeiten und einkaufen kann. Dabei fand das Bürgerbeteiligungsverfahren parallel zum Architekturwettbewerb statt. „Am Ende entstand ein qualitativ hochwertiges und hoch akzeptiertes Projekt von Köberl & Kröss Architekten, das sowohl von der Bevölkerung als von der Fachwelt viel Anerkennung erfuhr“, sagt Gruber. „Das Modell Fließ steht für den gelebten Krapfen-Effekt: Unter Beteiligung der Bürger ist ein attraktives Dorfzentrum entstanden.“ Anders gesagt: Wo einst ein Loch war, ist heute Marmelade. Und Fließ wurde daraufhin auch mit dem Hauptpreis in Europa, mit dem europäischen Dorferneuerungspreis prämiert.

Besonders spektakulär und mutig zugleich ist das Beispiel der Kleinstadt Haag in Niederösterreich. Dort war die Ortsmitte zu einem öden Parkplatz verkommen, geschlossene Gasthäuser und leerstehende Wohnbauten drum herum. Um den ausgestorbenen Ortskern wiederzubeleben, starteten die Gemeindeverantwortlichen als Impulsprojekt ein jährliches Sommertheaterfestival, für das sie eine spektakuläre mobile Holztribüne für 600 Zuschauer in Auftrag gaben. Das neue Wahrzeichen und Kulturangebot löste weitere Bauprojekte aus, die wieder Leben in die Ortsmitte brachten. Mehr noch „In diesem Jahr findet das Theaterfestival um 20. Mal statt“, sagt Gruber. „Die Freude aller Beteiligten ist immer noch so groß wie beim ersten Mal.“

„Ich möchte, dass wir keine Donuts mehr produzieren, sondern Krapfen“

Kreativer Ausnahmezustand: Die Architekten von nonconform entwickelt mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam die Zukunft der Stadt.
© nonconform

Kreativer Ausnahmezustand: Die Architekten von nonconform entwickelt mit den Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam die Zukunft der Stadt.

Im Zentrum jeder Gemeinde sollten Räume für gemeinsame Feste und gemeinsames Leben sein, findet Gruber. „Aber das fällt einem nicht in den Schoß, das muss man organisieren.“ Aufgabe der Gemeindeverantwortlichen sei es, Prozesse für die Gestaltung von Impulsprojekten und guter öffentlicher Räume anzustoßen und wenn die Prozesse gut gemacht seien, „entstehen die nötigen Gebäude fast von selbst“. Für seine Arbeit haben Gruber und das rund 40-köpfige nonconform Team schon einige Preise gewonnen. Inzwischen lebt er selbst mit seiner Frau und zwei Kindern wieder auf dem Land in Kärnten und sieht sein Leben auch ein wenig als Role-Model für den Zukunftsraum Land. Er ist sich sicher, dass es ein Revival für die Klein- und Mittelstädte geben wird, weil in den Metropolen das Leben immer teurer und für viele Leute unerschwinglich wird. Um so wichtiger sei es, dass das Leben in ländlich geprägten Räumen attraktiv bleibt und die Orte außerhalb der Ballungszentren zu mutigen Testlaboren für neue Lebens-, Arbeits-, Freizeit- und Wohnformen werden. „Ich möchte, dass wir keine Donuts mehr produzieren, sondern Krapfen mit innovativen Füllungen“, sagt Gruber. „Und ich möchte, dass das süße Leben in die Orte zurückkehrt.“