Hygge ist anywhere:
Wohnen und Arbeiten in der Welt von morgen

Im energieeffizienten Eigenheim oder im leistbaren Tiny House? Allein im Wohnmobil oder im Cohousing-Projekt auf dem Land? Auf die Frage, wie wir in Zukunft leben, gibt es mehr als eine Antwort.

Progressive Provinz: Projekte wie das von Wohnwagon in Gutenstein läuten die Renaissance des Landlebens ein.
© Wohnwagon

Progressive Provinz: Projekte wie das von Wohnwagon in Gutenstein läuten die Renaissance des Landlebens ein.

Wohnen im ehemaligen Wirtshaus – für Theresa Steininger und 14 ihrer Mitarbeiter ist das der Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Ende 2018 sind sie alle zusammen von Wien in den verlassenen Gutensteinerhof nach Niederösterreich gezogen. Dort ist auch das Büro ihres Baumeisterbetriebs Wohnwagon untergebracht. Schrittweise möchten sie den alten Villen des Ortes neues Leben einhauchen, autarke Mehrfamilienhäuser bauen und Tiny Houses aufstellen, die Wohnwagon seit 2013 produziert. „Gutenstein soll ein nachhaltiges Vorzeigedorf werden“, lauten Theresas Pläne. Dazu gehören die Förderung regionaler Geschäftsideen genauso wie die Selbstversorgung; in Coworking Spaces und in der Dorfwerkstatt wird an Ideen zum autarken Leben getüftelt; und Events locken Gäste an. Die Genossenschaft Dorfschmiede koordiniert die Projekte, die über einen Vermögenspool finanziert werden.

„Progressive Provinz“ nennt der Gründer des Zukunftsinstituts Matthias Horx das, was in Gutenstein passiert: Während dynamische Bevölkerungsschichten aus vielen Dörfern und ganzen Regionen wegziehen, werden andernorts engagierte Menschen zunehmend eine Renaissance des Landlebens einläuten. „Ich schaffe mir hier die Welt, wie ich sie haben möchte“, meint Theresa Steininger. Autark, umgeben von natürlichen Rohstoffen, der eigene Raum reduziert aufs Wesentliche, dafür mehr Platz für Gemeinschaft, so sieht für die 28-Jährige ein gutes Zuhause aus. Mit dieser Einstellung liegt sie nach den Ergebnissen des „Home Report 2019“ des Forscherpaares Horx im Trend.

Das Wie ist wichtiger als das Wo

Decluttering: Auf kleinem Raum zu wohnen bedeutet auch, sich aufs Wesentliche zu fokussieren.
© Wohnwagon

Decluttering: Auf kleinem Raum zu wohnen bedeutet auch, sich aufs Wesentliche zu fokussieren.

„Wo wir wohnen, verliert an Bedeutung, hingegen wird das Wie immer wichtiger“, erklärt Oona Horx-Strathern, die bereits seit mehr als 20 Jahren als Trendforscherin arbeitet. „Zuhause bedeutet sich wohlzufühlen.“ Dass das ein Flughafen sein kann oder eine Bibliothek, ein Garten oder Rastplatz, schreibt schon Philosoph und Autor Alain de Botton. Der Generation der „Anywheres“, wie sie der Journalist David Goodhart 2017 in seinem Buch „The Road to Somewhere“ nennt, kommt diese Flexibilität gelegen. Insbesondere Freelancer sind ungebunden, schätzen Autonomie und Selbstverwirklichung mehr als Stabilität. Arbeit und Wohnen verschmelzen. „Aus temporären flexiblen Arbeitsplätzen in Form von Coworking Spaces machen sie mehr und mehr private Wohnungen“, beschreibt Horx-Strathern die Attraktivität dieser „dritten Orte“. „Deshalb sind viele Coworking Spaces so heimelig.“

Hängematten, Pflanzen, ein Yoga-Zimmer und ein Gemeinschaftsgarten – gemütlich haben es sich auch die Mieter an den drei Standorten des Packhauses gemacht. All das kann innerhalb eines Monats wieder verschwinden. Denn die Coworking Spaces sind Zwischenlösungen für leerstehende Gebäude. Der Trägerverein Paradocks hat nur ein Überlassungsrecht, das der Immobilieninvestor jederzeit zurückfordern kann. Für Anywheres ist diese Unsicherheit kein Problem. Im Gegenteil. Für sie werden künftig Angebote des Temporary Livings die passende Wohnlösung liefern – je nach Lust und Lebenslage. Schon heute bietet das Unternehmen Apartmentservice in München, Frankfurt und Berlin voll ausgestattete Mikro-Wohnungen für zwischendurch; und bei SpareRoom können sich Wochenendpendler am Arbeitsort ein Zimmer für Montag-bis-Freitag mieten.

Gemeinschaft der Individualisten

Mehr als nur ein Büro: Für die Generation Anywhere ist der Wohlfühlfaktor auch beim Arbeiten wichtig.
© Packhaus

Mehr als nur ein Büro: Für die Generation Anywhere ist der Wohlfühlfaktor auch beim Arbeiten wichtig.

Hauptsache Hygge würden die Dänen sagen. Hygge bedeutet so viel wie Gemütlichkeit und ist das skandinavische Patentrezept für Wohlbefinden, das gerade den deutschsprachigen Raum erobert: eine warme, herzliche Atmosphäre, in der man gemeinsam mit Freunden und Familie das gute Leben genießt, sich rückbesinnt auf die kleinen Dinge, die Freude bereiten. Mit Hygge rücken die Vorzüge sozialer Bindungen ins Zentrum. Früher wurden wir in eine Gemeinschaft geboren und mussten unsere Identität finden, analysiert die New Yorker Trend-Agentur K-Hole. Heute werden wir als Individuen geboren und müssen unsere Gemeinschaft finden. Damit allein ist es nicht getan: „Wichtig ist, dass man Teil des Prozesses wird“, erklärt Oona Horx-Strathern. „Man möchte mitbestimmen.“

Anders als die Kommunen der 70er Jahre sind diese Shared Spaces von morgen „individualistische Gemeinschaften“, in denen der persönliche Rückzugsort genauso wichtig ist wie der Raum für Austausch. „Es braucht eine Balance zwischen ,shared meters‘ und ,square meters‘“, sagt die britische Trendforscherin und verweist auf ein anderes Geheimnis der Skandinavier: Lagom. Das ist schwedisch für „genau das richtige Maß“. Dieses zu finden wird nicht nur von den Nutzern abhängen. Auch Architekten und Landschaftsplaner sind gefragt, beeinflussen sie mit ihren Entwürfen doch entscheidend unser Verhalten und Wohlbefinden. „Menschen machen Gebäude, Gebäude machen Menschen“, hat Winston Churchill bereits 1943 gemeint. Heute bestätigen immer mehr Neurowissenschafter und Psychologen die Wechselwirkungen zwischen der gebauten Umwelt und dem Verhalten ihrer Bewohner. Die Erkenntnisse dieser sogenannten „Neuroarchitektur“ sollen die Architekten der Zukunft verstärkt nutzen, um mit ihren Häusern und Wohnungen unser Zusammenleben zu verbessern. „Oder sie versuchen, eine Zeit lang darin zu leben“, rät Oona Horx-Strathern.

Modular mit Wohlfühlfaktor

Das Zuhause von Oona Horx-Strathern und Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher (zukunftsinstitut.de)
© Zukunftsinstitut | Foto: Klaus Vyhnalek

Das Zuhause von Oona Horx-Strathern und Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher (zukunftsinstitut.de)

Die Trendforscherin und ihre Familie machen diese Erfahrung seit 2010 selbst. Im Future Evolution House am Wiener Stadtrand experimentieren mit modularen Wohnräumen,die sich dem Leben anpassen. Da kann das „Think/Work“-Zimmer etwa später in ein kleines Wohnhaus umgewidmet werden. „Wenn Wohnraum knapp ist, muss man in Richtung Mikrowohnung und modular denken“, so die Autorin. Das gelte vor allem für Städte, in denen das Fehlen bezahlbaren Wohnraums immer brisanter wird. Hier werde es künftig notwendig, kleine, bezahlbare Wohnungen zu errichten – und das möglichst schnell. Innovative Architekten wie der Schwede Andreas Martin-Löf zeigen schon heute vor, was in Zukunft Standard sein wird: Seine modularen 32-Quadratmeter-Wohneinheiten werden in einem Werk außerhalb Stockholms gefertigt und später in verschiedenen Höhen zusammengebaut – je nach Bedarf und vor allem Platz des Kunden.

Durch diese Massenproduktion kann Wohnraum außerdem schneller und kostengünstiger geschaffen werden. Precrafted heißt das im Trendjargon, also vorgestaltet, statt vorgefertigt. Auf Kosten des Wohlfühlfaktors dürfe das aber nicht gehen, soziale Plattenbauten sollen der Vergangenheit angehören. „Einfach nur Wohnungen für die Massen zu errichten, ohne auf den Einfluss von Design, Qualität und die Auswirkungen von Architektur auf das Wohlbefinden der Bewohner zu achten, ist einer der Gründe, warum diese Orte oft soziale Brennpunkte sind“, sagt Horx-Strathern.

Smarte Lebenshelfer

Trend-Expertin: Oona Horx-Strathern forscht und berät seit mehr als 20 Jahren.
© Oona Horx-Strathern, www.strathern.eu | Foto: Klaus Vyhnalek, www.vyhnalek.com

Trend-Expertin: Oona Horx-Strathern forscht und berät seit mehr als 20 Jahren.

So sehr Horx-Strathern vom modularen Wohnen schwärmt, so wenig hält sie von Smart Technology – vernetzten Geräten, die uns das Leben erleichtern sollen. „Vieles ist nur eine Spielerei“, meint sie nach exzessivem Ausprobieren. Smart Technology bereichere meist (noch) nicht das Leben. Einige Anwendungen funktionieren für manche Nutzergruppen jedoch bereits sehr gut: Der Community-Manager in den i-Live-Apartments in Heidelberg etwa organisiert auf Knopfdruck Willkommenspartys, Carsharing oder Skireisen. „Diese Smart Home Services sind nicht deshalb smart, weil sie über eine App funktionieren“, schreibt Horx-Strathern. „Sondern weil sie den Bedürfnissen der Menschen nach persönlichen Services durch einen realen Menschen Rechnung tragen.“ Ihrer möchte sie sich im nächsten Home Report 2020 genauso annehmen wie einem sehr prekären Thema, nämlich der Einsamkeit in unserer alternden Gesellschaft. „Es ist ein unterschätztes Sozialthema, das viel mit Wohnen zu tun hat“, erklärt die zweifache Mutter. Dass wir künftig wie in Japan Dörfer nur für ältere Menschen bauen, sieht sie dabei aber nicht als Trend. Das wäre auch alles andere als Hygge.

Lesetipps:
Lies auch unseren Artikel über eine Mikrohaus-Siedlung in Schneegattern in Öberösterreich.
Oder unseren Artikel mit Fünf Gründen für ein Leben im Tiny House.
Oder unseren Artikel über das Wohnen im Modulhaus.