Eine Welt neuer Möglichkeiten

Die Corona-Pandemie fährt die Welt herunter, schafft aber auch Raum für Kreativität, Innovation und neue Formen des Zusammenlebens. Zehn Erfahrungen aus dem Jahr 2020, die wir in die Zukunft mitnehmen.

Es ist eine dieser rührenden Geschichten, die nur die vergangenen Monate hervorbringen konnten. Weil die Klavierlehrerin Cornelia Vertenstein aus Denver wegen der Corona-Pandemie keine Schüler mehr persönlich empfangen konnte, entdeckte sie Videotelefonie als Kommunikationsmittel für den Unterricht – und das mit 92 Jahren. Dieses Beispiel an Entschlossenheit und Hingabe ging um die Welt und hat sogar den Telekommunikationsanbieter Vodafone zu einem Werbespot inspiriert.

2020 hat das Zusammenleben, wie wir es kannten, in kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. So schnell, wie wir uns an Abstands- und Hygieneregeln gewöhnen mussten, sind Videokonferenzen, Homeoffice und Homeschooling zur Selbstverständlichkeit geworden. Unser Zuhause ist zu einem sicheren Rückzugsort geworden. Mehr noch: Indem viele angefangen haben, ihr Zuhause gemütlich einzurichten und das Naheliegende neu zu entdecken, ist Cocooning zum Trend geworden. Gleichzeitig fördert der Rückzug Kreativität und Erfindungsgeist und beschleunigt den Technologiewandel sowie digitale Geschäftsmodelle. Wir zeigen zehn Trends und Beispiele, die wir aus diesem Jahr für
die Zukunft mitnehmen.

1. Selbst Musik machen

Mit dem Rückzug in die eigenen vier Wände begann auch die Suche nach neuen, sinnvollen Beschäftigungen. Viele führt der Gedanke, mal wieder selbst Musik zu machen, zur App von Florian Lettner und Wolfgang Damm. Vor zwei Jahren haben sie in Linz Fretello gegründet. Fretello ist eine Gitarren-Lern-App, die mit künstlicher Intelligenz und Tutorials von Experten das Spiel von Anfängern und Fortgeschrittenen verbessert. In der Zeit der Ausgangsbeschränkungen hat die App enormen Zulauf bekommen. Die Nutzerzahlen legen pro Monat zwischen 20 und 30 Prozent zu.

2. Mehr Zeit zum Kochen

Mehr Zeit zu Hause bedeutet mehr Zeit zum Kochen. Tatsächlich gaben bei einer Umfrage im April rund zwei Drittel der befragten Österreicher an, derzeit überwiegend mit frischen Zutaten zu kochen. Auch Kochboxen erleben einen Aufschwung. Das Wachstum habe sich in der zweiten März-Hälfte „erheblich weiter beschleunigt“, teilte Hellofresh mit. Konkurrent Marley Spoon erreichte nach eigenen Angaben seit Jahresbeginn mehrere Rekorde: der höchste Umsatz auf Quartalsbasis sowie der umsatzstärkste Monat. Um die gestiegene Nachfrage während der Corona-Pandemie bedienen zu können, habe man seit März mehr als 500 Mitarbeiter eingestellt.

3. Teamsport vorm Sofa

Das richtige Produkt für zu Hause hat derzeit auch das New Yorker Unternehmen Peloton. Die vernetzten Fitness-Bikes sind für viele zur Alternative für das Fitnessstudio geworden. Die Zahl der Kunden, die für Online-Trainingskurse auf dem Monitor ihrer Peloton-Geräte zahlen, stieg binnen eines Jahres um 113 Prozent auf knapp 1,1 Millionen. Auch andere wie der Radsporttrainer Zwift oder die Sport-Community Strava verstärken den Trend zu digital gestützten Produkten, die ein gemeinsames Sporterlebnis ermöglichen – ganz ohne Fitnessstudio.

4. Sprechstunde per Video

Nicht nur der Besuch im Fitnessstudio, auch die Sprechstunde beim Arzt wird digital. Telemedizin hat in den vergangenen Monaten große Fortschritte gemacht. Sofern das Krankheitsbild es zulässt, behandeln Mediziner Patienten per Videosprechstunde. Das ist vor allem für Befundbesprechungen oder für die laufende Betreuung chronisch Kranker ein Fortschritt. Thomas Holzgruber, Direktor der Ärztekammer Wien, erkennt in dem Trend eine neue Normalität: „Das wird nicht mehr zurückgehen, wir werden nie wieder in eine Vor-Pandemie-Zeit kommen.“

5. Von überall lernen

Auch wenn Homeschooling den Normalbetrieb in den Schulen (noch) nicht ersetzen kann, haben E-Learning-Angebote seit Beginn der Corona-Pandemie enormen Rückenwind bekommen. Engagierte Nachhilfe-Threads auf Twitter, unterhaltsame Lifehacks auf Tiktok oder interessante Uni-Vorträge im Facebook-Livestream zeigen die Bandbreite digitaler Bildung. Spannend: Geht es nach den Plänen der Online-Fahrschule Driveddy, können junge Lenker ihre Theoriekurse bald von daheim erledigen. Noch ist
es rechtlich umstritten, ob eine gesetzliche Präsenzpflicht besteht. Aber in Deutschland hat das Berliner Start-up bereits einen Etappensieg errungen und durfte im Bundesland Nordrhein-Westfalen bis Ende September die Pflichtkurse digital anbieten. Möglicherweise wird Corona auch hier zum echten Game Changer.

6. Mehr hier und wir

Fragt man die Österreicher (IMAS Report), welche Aspekte durch Corona zunehmen werden, dann steht für 86 Prozent die Sorge um den Arbeitsplatz ganz oben. Aber genauso viele glauben auch, dass regionale Produkte wieder wichtiger werden. 85 Prozent erkennen eine neue Wertschätzung für Pflegeberufe und Verkäufer. Ebenfalls weit oben: der Zusammenhalt in der Familie (84 Prozent) und ein bewussteres Leben (82 Prozent). 73 Prozent glauben, dass Reisen ins Ausland an Bedeutung verlieren und Urlaub daheim zum neuen Trend wird. Der Thinktank Agenda Austria hat festgestellt, dass die Google-Suchanfragen für einen Urlaub in den Bundesländern im Vergleich zum Vorjahr regelrecht explodiert sind. Besonders beliebt: Vorarlberg.

Mehr Familie, mehr Wertschätzung, mehr Heimat – auch diese Krise hat zwei Seiten und bringt einige positive Aspekte für unser Zusammenleben hervor.

7. Kreativ denken

Mit klugem Beispiel voran geht die Dänin Sara Lee Krog. Die Designstudentin arbeitet mit Wandbekleidungen, die die Raumluft durch ein elektrochemisches Verfahren reinigen. Corona brachte sie darauf, dieses Verfahren auf die Entwicklung einer selbstreinigenden Schutzmaske anzuwenden. Dabei wird Metalloxid in den Maskenstoff eingebracht und mit UV-Licht bestrahlt. Diese sogenannte fotokatalytische Selbstreinigung zerstört organische Stoffe wie Viren oder Bakterien. Noch befindet sich Saras Maske im Versuchsstadium, aber ihre Kreativität ist bewundernswert.

8. Roboter sinnvoll integrieren

Die Zeit der weltweiten Kontaktbeschränkungen führt dazu, dass immer mehr Roboter in unseren Alltag Einzug halten. In Singapur beispielsweise macht ein ferngesteuerter Roboterhund Spaziergänger in Parks darauf aufmerksam, wenn sie nicht genügend Abstand halten. Und in Krankenhäusern versorgen Roboter Patienten mit Medikamenten und fragen nach dem Wohlbefinden, andere desinfizieren Böden und Flächen. „Menschen wollen eigentlich mit Menschen interagieren, aber Covid-19 ändert das“, sagt Martin Ford, Autor des Bestsellers „Rise of the Robots“. Er ist überzeugt, dass die Pandemie die Vorlieben der Verbraucher verändern und neue Möglichkeiten für die Automatisierung eröffnen wird.

9. Ohne Bargeld zahlen

Das Infektionsrisiko befeuert den Trend zum bargeldlosen Bezahlen weiter. Nach einer aktuellen Studie der Unternehmensberatung PwC geben 39 Prozent der Befragten in Österreich an, im Moment häufiger mit der Karte zu bezahlen als vor der Krise (Europa: 44 Prozent). Zusätzlich gibt die Mehrheit der Verbraucher in Österreich (54 Prozent) an, ihr geändertes Bezahlverhalten auch nach dem Ende der Pandemie ganz oder größtenteils beibehalten zu wollen.

10. Mehr Chancen nutzen

Die vergangenen Monate haben gezeigt: „At home“ ist das neue „to go“. Das heißt aber nicht, dass die Zeit der Globalisierung vorbei ist. Im Gegenteil: „Die Globalisierung wird eine enorme Beschleunigung erfahren, vor allem im Dienstleistungsbereich“, sagt Franz Schellhorn, Direktor der Denkfabrik Agenda Austria. „Denn künftig ist es egal, wo das Homeoffice stehen wird – ob in Salzburg oder Vancouver.“ Für den Vordenker ist Anpassungsfähigkeit das entscheidende, nachhaltige Kriterium. „Es gilt, den Strukturwandel zu forcieren und die Chancen zu erkennen“, sagt Schellhorn.