„Fehlender Kontakt verursacht Stress und belastet die Psyche“

Schlagen sich die strengen Lockdown-Regeln auch auf deine Stimmung nieder? Flexibilität, Disziplin und Humor können dir helfen, besser durch die Krise zu kommen, sagt die Psychotraumatologin Brigitte Lueger-Schuster.

Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster
©University of Vienna

Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster

Aktuelle Umfragen und Studien zeigen, dass sich die starke Einschränkung der sozialen Kontakte während der Corona-Pandemie negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt. So gibt es einen erheblichen Anstieg von Depressionen, Einsamkeit, Angstsymptomen und Schlafstörungen. Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster, Leiterin der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie der Universität Wien, erklärt, warum das so ist und wie wir uns mental stärken können.

Frau Lueger-Schuster, was geschieht mit unserer Psyche, wenn wir nicht mehr gesellig sein können und uns nicht berühren dürfen?

Das ist eine der spannendsten Fragen, zu der es noch keine ausreichenden Forschungen gibt. Daher kann man für diese Situation bisher auf keine wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse zurückgreifen. Aber man kann natürlich sagen, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das Bindung braucht, und insofern fehlt uns etwas enorm Wichtiges. Fehlender Kontakt verursacht Stress und belastet die Psyche.

Fehlender Kontakt verursacht Stress.

Fehlender Kontakt verursacht Stress.

 

Hat Sie der dramatische Anstiegt von Depressionen, Angstsymptomen und Schlafstörungen während der Pandemie überrascht?

Nein, das hat mich nicht überrascht. Die Gesellschaft hat momentan viele Probleme zu bewältigen. Viele Menschen belastet der ökonomische Druck. Aber auch die völlig ungewohnten Lebensverhältnisse im Lockdown mit Homeoffice und Homeschooling haben zu Konflikten in den Familien geführt. Das alles macht etwas mit uns und wir wissen, dass es Risikogruppen gibt, die schneller in eine psychische Erkrankung hineinrutschen als Menschen, die in stabilen und großzügigeren Verhältnissen leben.

Welche Personen- und Altersgruppen sind besonders gefährdet?

Aus der Forschung wissen wir, dass es unterschiedliche Risikogruppen gibt. Das sind zum einen Menschen, die in ökonomisch prekären Verhältnissen leben. Das sind zum anderen auch Personen mit einer geringeren Bildung. Und dann gibt es die Gruppe derer mit psychischen Vorerkrankungen. Jemand, der vor Jahren schon einmal depressiv war, hat ein erhöhtes Risiko, in dieser Situation wieder in eine Depression zu gleiten. Auch Menschen mit einer latenten Suchtproblematik haben ein erhöhtes Risiko, an einer offensiven Suchtproblematik zu erkranken. Überall, wo schon eine Verwundbarkeit vorhanden ist, steigt das Risiko einer psychischen Erkrankung. Auch häusliche Gewalt führt zu psychischen Krankheiten. Diverse Studien zeigen, dass vor allem Frauen, aber natürlich auch Kinder davon betroffen sind. Schließlich kommen auch Mediziner, Sanitäter und Pfleger, aber auch Polizisten oder Lehrer, also die Angehörigen systemerhaltender Berufsgruppen, bisweilen an ihre Grenzen.

Was kann da helfen?

Mediziner und Polizisten sind in ihren Berufen zum Teil so gut trainiert, dass sie mit so etwas umgehen können. Aber je länger die Situation anhält, desto herausfordernder wird sie. Deshalb muss man Entspannungsprogramme und Entlastung anbieten oder auch finanzielle Unterstützung. Insgesamt helfen den Menschen klare Ansagen. Deshalb müssen Entscheidungen evidenzbasiert sein und, wenn sie kommuniziert werden, auch eine Gültigkeit haben. Unklarheit macht hilflos und wenn man hilflos ist, steigt die Tendenz, gereizt zu werden bis hin zu Aggressionen. Interessant ist, dass Personen, die Corona zunächst als ungefährlich einschätzen, ein erhöhtes Risiko haben, im Falle einer Covid-Erkrankung zusätzlich eine Depression zu bekommen.

Kontakt halten mithilfe digitaler Medien

Kontakt halten mithilfe digitaler Medien

Können digitale Kommunikationsmittel ein Ersatz für persönliche Begegnungen sein?

Wer in Quarantäne sein muss, kann mithilfe digitaler Medien wunderbar Kontakt halten. Man kann sich in diversen Social-Media-Plattformen treffen, miteinander Karten spielen und sich jede Menge Unterhaltung besorgen. Es ist aber wichtig, dass man sich dabei nicht ständig Katastrophennachrichten über Covid-19 aussetzt. Foren, in denen sehr viel Wut kommuniziert wird, sollte man meiden. Wut hilft einem nicht, sie steigert nur die Anspannung und den Stress.

Auch Kinder haben es momentan nicht leicht. Wie kann man ihnen in der Krise helfen?

Für Kinder ist es vor allem wichtig, dass sie verstehen, was passiert. Deshalb müssen Eltern immer wieder mit ihren Kindern darüber reden, warum sie Mund-Nasen-Schutz tragen sollen und warum sie nicht mehr auf dem Spielplatz herumtollen oder die Großeltern besuchen können. Eltern müssen Kindern den Raum geben, viele Fragen zu stellen, auch wenn es anstrengend ist. Kindern hilft Geduld und Struktur – auch und gerade im Corona-Alltag. Und man darf auch mal gemeinsam traurig darüber sein, dass es so ist, wie es ist. Eltern müssen nicht immer die starke Mutter oder der starke Vater sein, sondern können auch mal sagen, mir geht es auch nicht gut, aber wir kriegen das hin.

Kinder sollten verstehen, was passiert.

Kinder sollten verstehen, was passiert.

 

Was kann jeder für sich selbst tun, um die mentale Belastung in der Pandemie besser zu verarbeiten?

Dazu muss man zunächst herausfinden, was einem gut tut, wenn man Stress hat. Jeder Mensch hat für sich eine Möglichkeit zu entspannen. Manche gehen in die Natur, andere machen Gymnastik, hören Musik oder legen sich ins Bett. Das sind alles probate Mittel. Auch Atemübungen oder Meditation können helfen, manchmal reicht eine Viertelstunde bereits aus. Es darf auch mal ein Glas Rotwein oder ein Bier sein, aber bitte mit Vorsicht. Nachgewiesen ist, dass körperliche Betätigung wie bei der Gartenarbeit oder beim Sport Stress reduzieren. Wenn Sport aber gerade nicht möglich ist, kann man, statt mit dem Auto zu fahren, auch mal zu Fuß gehen. Es gibt viele kleine Dinge, die einem dabei helfen, den Stress zu reduzieren.

Eine Möglichkeit der Entspannung: Spaziergang in der Natur

Eine Möglichkeit der Entspannung: Spaziergang in der Natur

Kann man sich auch physisch oder mental auf den Fall einer Covid-Infektion vorbereiten, sollte man das vielleicht sogar tun?

Es ist hilfreich, den Haushalt so vorzubereiten, dass man 14 Tage in Quarantäne verbringen kann. Wer alles zu Hause hat, was er braucht, um 14 Tage durch den Alltag zu kommen – Lebensmittel, Medikamente, Bücher und so weiter – fühlt sich vorbereitet. Diese praktische Strategie hat den Effekt, dass man sich zutraut, damit umgehen zu können. Hilfreich ist auch, sich klar zu machen, dass es ein Ende hat: 14 Tage Quarantäne gehen vorüber. Wer zwischendurch einen Hänger hat, kann Freunde anrufen. Und wer ins Krankenhaus muss, kann sich vor Augen halten, dort bestmöglich versorgt zu werden. Wer sich gut vorbereitet, seine Kontakte pflegt und gut durch die Quarantäne kommt, kann vielleicht sogar gestärkt daraus hervorgehen, weil man sich sagen kann: „Ich hab’s geschafft, auch psychisch, ich bin nicht zusammengebrochen.“

Was können wir über die Schutzmaßnahmen hinaus tun, um die Situation für unsere Mitmenschen zu verbessern?

Nachbarschaftshilfe ist im Moment ein großes Thema, zum Beispiel beim Einkaufen. Wenn man allein lebt und zu Hause bleiben muss und es fehlt irgendwas, ist es eine große Hilfe, jemanden anrufen und um Hilfe bitten zu können. Und es ist gut, wenn man das vorab schon besprochen und am sozialen Netz gearbeitet hat. Es war sehr beeindruckend, als sich in der Zeit des Lockdowns junge Leute zusammengetan haben, um älteren Menschen Hilfe anzubieten. Das ist gelebte Solidarität. Das tut auch denen gut, die die Solidarität leisten, und nicht nur denen, die sie empfangen.

Welche Hilfsangebote gibt es für Menschen, wenn sie oder eine nahestehende Person verzweifelt ist?

Das Wichtigste ist, jemanden zum Reden zu finden. Das kann in der Verwandtschaft, in der Nachbarschaft, bei Freunden oder bei professionellen Hilfsangeboten sein. Es gibt Notrufe, Hotlines und die Seelsorge, die jeder Zeit telefonisch erreichbar sind. Das Gesundheitsministerium hat eine Broschüre mit Empfehlungen zur psychischen Gesundheit herausgebracht, die häufig gestellte Fragen beantwortet. Man kann sich auch an seinen Hausarzt wenden, die haben in der Regel gute Tipps. Das schlechteste, was man tun kann, ist zu Psychopharmaka oder zu Schlafmitteln zu greifen, wenn man mal ein bisschen angespannt ist.

„Das Wichtigste ist, jemanden zum Reden zu finden.”

„Das Wichtigste ist, jemanden zum Reden zu finden.”

Krisen können auch Chancen eröffnen. Was kann jeder für sich tun, um psychisch gestärkt aus der Krise zu kommen?

Uns hilft der Mechanismus der Anpassung, denn wir gewöhnen uns auch an Krisen. Das wissen wir aus Studien von Menschen, die in Krisengebieten leben, beispielsweise in Israel, wo immer wieder sehr viel Gewalt in die Gesellschaft hineinkommt. Und wenn man nicht mehr kann, dann sollte man sich eine kleine Auszeit nehmen, vielleicht irgendwohin fahren, zum Beispiel aufs Land. Insgesamt können wir uns darauf verlassen, dass der Mensch ein sehr widerstandsfähiges Wesen ist und man mit sehr vielen Gegebenheiten sehr viel besser zurechtkommt, als man es sich vorgestellt hat. Das ist unsere Flexibilität, das ist unsere Disziplin und das ist auch der Humor, der uns dabei hilft.

Zur Person: Prof. Dr. Brigitte Lueger-Schuster ist seit 2014 Vorsitzende der Schiedskommission der Universität Wien und Professorin für Psychotraumatologie an der Fakultät für Psychologie. Sie befasst sich in ihrer Forschung mit Trauma und Traumafolgestörungen insbesondere bei Erwachsenen. Ein Forschungsschwerpunkt sind komplexe posttraumatische Belastungsstörungen hervorgerufen durch multiple und langfristige Traumata in der Kindheit, wie zum Beispiel bei ehemaligen Heimkindern oder Opfern der Katholischen Kirche. Brigitte Lueger-Schuster engagiert sich außerdem in internationalen Projekten, die sich mit den Folgen von Missbrauch in der Kindheit auseinandersetzen.

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