„Die Globalisierung wird eine enorme Beschleunigung erfahren“

Die Corona-Pandemie stellt Österreich vor große Herausforderungen und offenbart Schwächen im System. Franz Schellhorn, Direktor der Denkfabrik Agenda Austria, erklärt, wie eine Welt mit Corona aussieht, warum wir in Zukunft länger arbeiten müssen und was Wien von London lernen kann.

Dr. Franz Schellhorn
© Agenda Austria

Dr. Franz Schellhorn

Herr Dr. Schellhorn, welche Lehren können wir aus der Corona-Pandemie ziehen?

Wir sehen gerade, dass eine Welt ohne Wachstum keinen schönen Anblick bietet. Das ist mir besonders wichtig zu betonen, weil in der jüngeren Vergangenheit viele Experten die Meinung vertreten haben, dass wir auch ohne Wachstum auf unserem gewohnten Wohlstandsniveau weiterleben können. Die Vertreter der „Beyond-Growth“-Bewegung und der „Modern Monetary Theory“ versprechen den anstrengungslosen Wohlstand. Demnach müssten wir eigentlich nur Geld drucken, um unsere Schulden zu bezahlen sowie die sozialen Haushalte und die Unternehmen am Laufen zu halten. Durch Corona sehen wir, was passiert, wenn das Wachstum ausbleibt. Viele öffentliche und private Haushalte leben am Anschlag. In Österreich sind 400.000 Menschen ohne Arbeit und genauso viele in Kurzarbeit. In den nächsten Monaten wird eine massive Kündigungswelle auf uns zurollen – den Betroffenen zu sagen, dass sie jetzt endlich vom Wachstumszwang befreit sind, halte ich für zynisch. 

Globalisierte Produktion, Globalisierung von Dienstleistungen

Globalisierte Produktion, Globalisierung von Dienstleistungen

Viele sagen gerade, dass die Welt nach Corona eine andere sein wird, dass die Globalisierung so nicht mehr fortzuführen sei und wir vor einer Regionalisierung stehen. Wie sehen Sie das?

Das denke ich nicht. Ich vertrete eher die Ansicht, dass Corona nicht mit den Trends bricht, sondern sie beschleunigt. Zwar wird es zu einer Rückverlagerung von Produktionen auch nach Europa kommen, aber die Globalisierung wird eine enorme Beschleunigung erfahren, vor allem im Dienstleistungsbereich. Denn künftig ist es egal, wo das Homeoffice stehen wird – ob in Salzburg oder Vancouver. Was bleiben wird, ist die Angst vor der Pandemie. Als ich jung war, hatten wir immer die Sorge vor einem Atomkrieg. In Zukunft werden wir damit leben müssen, dass gesundheitsgefährdende oder tödliche Viren im Umlauf sind. 

Wie können wir uns auf eine Welt nach Corona einstellen?

Zunächst müssen wir erkennen, dass auch die Probleme, die wir vor der Krise schon hatten, sich noch einmal beschleunigen werden. Das betrifft die Arbeitslosigkeit, die Pensionen und die Bildung. Es müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die Langzeitarbeitslosigkeit zu verringern. In Österreich haben sich die Zahlen im Vergleich zu anderen Ländern, insbesondere Deutschland, massiv erhöht – seit 2013 nahezu verdoppelt. Das ist eine sehr unerfreuliche Entwicklung, die von unserem System noch begünstigt wird. Das Arbeitslosengeld ist mit 55 Prozent des letzten Nettolohns eher gering, aber über lange Frist relativ hoch. Hinzukommt, dass die anschließende Notstandshilfe de facto ewig gezahlt wird und mit 95 Prozent des Arbeitslosengeldes im Vergleich zu Sozialleistungen in anderen Ländern sehr hoch bemessen ist. Der Anreiz, sich rasch einen Job zu suchen, ist gering. 

Was schlagen Sie vor?

Es gibt keine schnellen Lösungen. Entscheidend wird sein, in die Weiterbildung und in die Qualifizierung von Arbeitslosen zu investieren. Man wird aber auch mehr von den Arbeitslosen fordern müssen. Es kann nicht sein, dass junge Menschen im Osten des Landes arbeitslos gemeldet sein können und auf Kosten der Allgemeinheit Arbeitslosengeld beziehen, anstatt zwei, drei Bundesländer weiterzuziehen, wo es einen Job gibt.

Demografieentwicklung: Finanzierunglücke im Pensionssystem wird größer.

Demografieentwicklung: Finanzierunglücke im Pensionssystem wird größer.

Sie haben auch noch die Pensionen angeführt. Wie muss Österreich dieses Thema angehen?

Die Gesamteinnahmen des öffentlichen Pensionssystems liegen heuer bei ungefähr 35 Milliarden Euro. Die Gesamtausgaben liegen bei rund 59 Milliarden Euro. Wir haben also eine Finanzierungslücke von 24 Milliarden Euro allein in diesem Jahr. Wenn wir auf die Demografieentwicklung blicken, wird sich der Trend fortsetzen. Allein bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Pensionisten um 1,1 Millionen höher sein als derzeit, während die Zahl der Erwerbstätigen sinkt. Zu diesem Zeitpunkt werden 1,29 Aktive einen Pensionisten finanzieren müssen – neben ihrem eigenen Leben. Um dieses Problem zu lösen, gibt es drei Wege: Noch höhere Beiträge der immer weniger werdenden Aktiven, Pensionskürzungen oder ein paar Monate später in Frühpension gehen. Wir von der Agenda Austria plädieren für Letzteres, wie das zum Beispiel Schweden gemacht hat: jedes Jahr zwei bis drei Monate später in Frühpension zu gehen. 

Wie steht es in diesem Zusammenhang um die private Vorsorge?

Wir haben es in Österreich in den vergangenen Jahrzehnten geschafft, die private Vorsorge gänzlich zu diskreditieren und die Kapitalmärkte zu verteufeln. Wir müssen aber erkennen, dass die Kapitalmärkte nicht der Feind sind, sondern der einzige Verbündete, den wir haben. Und das ist keine Raketenwissenschaft. Es genügt der Blick in andere Länder. Dänemark hat in den 1970er-Jahren mit dem Aufbau der privaten Vorsorge begonnen. Heute liegen Beträge in Höhe von 200 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung in privaten Pensionsplänen. In Österreich sind es sechs Prozent. Die Dänen sind auf den demografischen Wandel vorbereitet, wir nicht. Dort stellt man auch weniger auf die Kapitalgarantie ab, sondern auf ein breites Investitionsspektrum, etwa in Private Equity und in internationale Kapitalmärkte. Wir könnten aber auch ganz einfach dort investieren, wo es der norwegische Staatsfonds tut. Gerade den Jüngeren muss klar sein, dass sie höhere Risiken nehmen müssen, um sich Renditechancen zu sichern. Und über lange Sicht, mit einem weltweit aufgestellten Portfolio, ist das sogar eine ziemlich sichere Sache. Wie die nordischen Wohlfahrtsstaaten zeigen.

Problemstelle Bildung: Keine guten Ergebnisse in Österreich im internationalen Vergleich

Problemstelle Bildung: Keine guten Ergebnisse in Österreich im internationalen Vergleich

Sie haben als dritte Problemstelle die Bildung angesprochen. Was läuft hier schief?

In Österreich ist die Rede davon, dass es dem Bildungssystem an Geld fehlt. dabei investiert die öffentliche Hand im Schnitt 110.000 Euro pro Schüler in die Schullaufbahn. Das ist der zweithöchste Wert weltweit, damit liegen wir also deutlich vor Ländern wie Schweden, Finnland oder Deutschland. Dennoch kann Österreich keine guten Ergebnisse in Bildungstests aufweisen. Ein Fünftel der Schüler kann nicht sinnerfassend lesen, dieselbe Anzahl hat Schwierigkeiten bei den Grundrechenarten. Diese Punkte sind seit vielen Jahren bekannt ­– und werden ignoriert. Geht man den fehlenden Sprachkenntnissen auf den Grund, sieht man, dass an Wiener Volksschulen 64 Prozent der Schüler Deutsch nicht als Umgangssprache haben. Das bedeutet nicht, dass die Schüler nicht ordentlich deutsch sprechen würden, aber es zeigt doch, dass ein Großteil dieser Schüler die Schule verlassen wird, ohne die deutsche Sprache richtig zu beherrschen. 

Wie kann man solche Probleme lösen, ohne eine multikulturelle und offene Gesellschaft in Frage zu stellen?

London hatte vor rund 30 Jahren dasselbe Problem mit niedrigen Bildungsstandards und einer hohen Fremdsprachenquote. Im Rahmen der sogenannten London Challenge haben die Briten als erstes die Ergebnisse der Bildungstests transparent gemacht. In Österreich darf aktuell noch nicht einmal der Bildungsminister die Ergebnisse einsehen – aus Datenschutzgründen. In London hat dieser Schritt dazu geführt, dass man die Problembezirke erkannt und den Schulen gezielt mehr Geld, etwa für neues Personal, gegeben hat. Binnen einer Frist von fünf Jahren mussten die Schulen nachweislich besser werden. Heute zählen die öffentlichen Schulen in London durch den Wettbewerb zu den besten Schulen in Großbritannien, obwohl das Programm schon seit vielen Jahren eingestellt ist. Übrigens ist damals auch eine österreichische Delegation von Wien nach London geflogen und war von dem Programm hellauf begeistert. Aber schon auf dem Rückflug hat man gewusst, warum so eine Challenge in Österreich nicht umzusetzen ist und warum das alles schwierig ist. Also hat man den einfachsten Weg gewählt und die Kinder weiter im Stich gelassen. 

Weil die Menschen Angst vor Veränderung haben? 

Richtig. Deshalb ist auch eine zentrale Erkenntnis der Krise, dass nicht die Großen überleben, sondern die Anpassungsfähigen. Das betrifft den Staat genauso wie die Unternehmen. Es gilt, den Strukturwandel zu forcieren und die Chancen zu erkennen. Prozesse vereinfachen, wo es möglich ist, und darüber nachdenken, was moderne Technik und künstliche Intelligenz schon alles erledigen können. Digitalisierung ist keine Bedrohung, keine Naturkatastrophe gegen die man sich absichern muss. Das ist der falsche Zugang. Die Chancen sind enorm. Die Arbeit wird sich verändern. Es wird eine ganze Reihe von neuen Jobs geben, die wir heute noch nicht kennen. Die Arbeit wird den Menschen mit Sicherheit nicht ausgehen. Aber es wird eine andere sein.

Der Trend spricht für Wüstenrot: Absicherung durch Eigenheim

Der Trend spricht für Wüstenrot: Absicherung durch Eigenheim

Wie beurteilen Sie die Zukunftschancen für die Wüstenrot Gruppe?

Wie gesagt: Anpassungsfähigkeit ist das nachhaltige Kriterium. Man hat schon viele Firmen untergehen sehen, die niemals gefährdet waren unterzugehen; die Trends verschlafen haben. Wie Corona gezeigt hat, kann Wüstenrot auf eine Belegschaft setzen, die sehr anpassungsfähig und offen für Veränderung ist. Das sieht man nicht überall. Und was auch entscheidend ist: Alle Trends sprechen für Wüstenrot: der Bedarf an zusätzlicher Absicherung durch die private Vorsorge oder der immer stärker werdende Wunsch nach einem Eigenheim. Jeder, der Kinder hat, weiß, dass wir vor großen Herausforderungen stehen. Das war allerdings für jede Generation vor uns genauso. Klar ist, dass wir eine bessere Ausbildung brauchen und eine höhere Produktivität, um unser hohes Wohlstandsniveau zu halten. Klar ist auch, dass sich die Jungen von heute gegen den demografischen Wandel und die damit steigenden Lasten des Sozialstaats absichern müssen. Für viele führt dieser Schutz auch über den Weg des Eigenheims. Das alles ist ziemlich aufgelegt für ein Unternehmen wie Wüstenrot.

Dr. Franz Schellhorn

  • Studierte Handelswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien, Abschluss 1997. Vor seinem Studium absolvierte er eine Bankausbildung bei der Creditanstalt in Wien und Salzburg.
  • 2004 bis 2013 leitete Franz Schellhorn das Wirtschaftsressort der Tageszeitung „Die Presse“.
  • Leitet seit 2013 die wirtschaftsliberale Denkfabrik Agenda Austria.