„Für ein Unternehmen ist es entscheidend zu verstehen, wofür es steht“

Unsere Arbeitswelt verändert sich rasant. Das hat auch Auswirkungen auf die Personalauswahl der Unternehmen. MEIN LEBEN hat mit dem Trendforscher Dr. Philipp Hofstätter über das Recruiting der Zukunft gesprochen.

Dr. Philipp Hofstätter beschäftigt sich als Trendforscher und Business-Philosoph überwiegend mit den Themen Arbeit und Gesellschaft – unter anderem für das Zukunftsinstitut. Er analysiert nicht nur, wie wir heute leben und arbeiten, sondern schaut auch voraus, was uns morgen erwartet.

Dr. Philipp Hofstätter beschäftigt sich mit den Themen Arbeit und Gesellschaft.

Dr. Philipp Hofstätter beschäftigt sich mit den Themen Arbeit und Gesellschaft.

Herr Dr. Hofstätter, viele Unternehmen haben immer größere Schwierigkeiten, die richtigen Mitarbeiter zu finden. Hat der Fachkräftemangel das Recruiting bereits verändert?

Ja, das hat er, und diese Veränderung ist noch in vollem Gange. Wir befinden uns mitten in einem Paradigmenwechsel. Bis vor ein paar Jahren haben Unternehmen beim Recruiting Positionen ausgeschrieben und dann gewartet, bis die Leute sich bewerben. Heute sind Unternehmen wesentlich aktiver. Wir sehen im Recruiting immer mehr Aktivitäten, wie wir sie aus dem Marketing kennen. Ziel des Marketings ist es, Kunden anzusprechen und für die Produkte zu werben. Dafür muss es die Kunden gut kennen. Beim Recruiting sieht es heute ähnlich aus: Es sind die Unternehmen, die sich bei den potenziellen Mitarbeitern bewerben und sich bemühen, die Bedürfnisse dieser Mitarbeiter kennenzulernen – und darauf einzugehen. Das ist eine Umkehrung der Verhältnisse, wie wir sie früher aus dem Personalbereich kannten.

Ist es den Unternehmen bereits bewusst, dass dieser Paradigmenwechsel stattfindet?

Allen mit Sicherheit nicht. Es sind vor allem die, die heute den Fachkräftemangel am ärgsten spüren, zum Beispiel im IT-Sektor: Hier sehen wir eine klare Korrelation zwischen der großen Nachfrage nach IT-Experten und den Aktivitäten der Unternehmen. Sie machen sich viel mehr Gedanken, was die Leute gerne hätten und wie man stärker auf sie zugehen kann. In anderen Bereichen ist das noch nicht der Fall, da glaubt man zum Teil heute noch, man könne so dahinarbeiten wie bisher. Aber das wird sich ändern. In ein paar Jahren wird es der Status quo sein, dass Unternehmen stärker auf die Kandidaten zugehen und die potenziellen Mitarbeiter werden das auch erwarten.

„Unternehmen bewerben sich bei potenziellen Mitarbeitern.”

„Unternehmen bewerben sich bei potenziellen Mitarbeitern.”

Was können die Unternehmen tun, damit sie diese Erwartungen auch erfüllen können?

Vieles. Der wichtigste Punkt ist sicherlich, dass Unternehmen überhaupt erst einmal eine Methode entwickeln, wie sie die Bedürfnisse von potenziellen Mitarbeitern erkennen und wie sie darauf eingehen. Hier gibt es bereits gewisse Ansätze, sie sind aber oft sehr grob und zu wenig differenziert. In vielen Personalabteilungen wird heute mit dem Generationenmodell gearbeitet. Dort fragen sie sich also, wie ticken die Leute aus der Generation Y (die Jahrgänge 1880 bis 1993) oder der Generation Z (1994 und jünger)? Wenn wir uns diese Generationen betrachten, dann sehen wir unterschiedliche Wertevorstellungen. Bei der Generation Y etwa legt man weniger Wert auf materielle Güter, dafür mehr Wert auf Autonomie und Selbstverwirklichung als bei früheren Generationen. Aber man muss anerkennen, dass dies Durchschnittswerte sind und es innerhalb der Kohorten eklatante Abweichungen geben kann. Unternehmen müssen also erstens lernen, dass es diese Differenzen gibt. Und zweitens müssen sie lernen, wie sie auf die unterschiedlichen Bedürfnisse in den Gruppen eingehen können. Ohne diese Differenzierung werden sie keinen Erfolg haben.

Wo sehen Sie die größte Herausforderung für Unternehmen?

Auch hier sehe ich Parallelen zum Marketing. In einer frühen Phase des Marketings haben Unternehmen nach dem Gießkannenprinzip gehandelt: Sie haben ihre Botschaft in der Welt verbreitet und wollten einfach möglichst viele Menschen erreichen. So generisch bewerben Unternehmen auch heute ihre freien Positionen mit den immer gleichen Phrasen und Buzzwords, mit denen man die Menschen einer bestimmten Generation anlocken will. Dabei wird oftmals vergessen, dass jedes Unternehmen seine Eigenheiten und seine eigene Kultur hat. Die Herausforderung besteht darin, dies zu erkennen und dann die Botschaften viel gezielter auf eine bestimmte Zielgruppe zu richten – die Menschen nämlich, die auch ins Unternehmen passen. Das ist der entscheidende Punkt.

Wie tickt das Unternehmen? Unternehmenskultur spielt eine wichtige Rolle für das Recruiting.

Wie tickt das Unternehmen? Unternehmenskultur spielt eine wichtige Rolle für das Recruiting.

Wie kommt man dahin, denn dafür muss man sicher Vorarbeit leisten?

In der Tat ist das eine der großen Herausforderungen für das Recruiting. Es wird in der Zukunft nicht mehr ein so abgeschlossener Bereich sein können, wie das heute oftmals noch der Fall ist. Das Recruiting muss viel stärker in strategische Überlegungen und in Fragen der Unternehmenskultur eingebunden sein. Unternehmenskultur ist ein Punkt, der zwar immer mehr Beachtung findet, aber ich meine, keine ehrliche Beachtung. Es ist sehr en vogue, das Unternehmensleitbild in großen Lettern in die Eingangshalle zu hängen. Oft ist das Leitbild aber sehr beliebig und austauschbar. Es fehlt eine ehrliche Auseinandersetzung. Es gibt Unternehmen, die sehr leistungs- und erfolgsorientiert sind. Andere bieten ein familiäres Umfeld und legen Wert auf Harmonie. Beides ist in Ordnung. In einigen Unternehmen liegt der Schwerpunkt auf Lernen und die Fehlertoleranz ist hoch, andere betonen Qualität und Tradition. Für ein Unternehmen ist es entscheidend zu verstehen, wofür es steht. Unternehmenskultur ist im besten Fall erkennbar und beschreibbar – aber nur schwer bewusst steuerbar.

Was bedeutet das für das Recruiting?

Wenn ein Unternehmen weiß, wie es tickt, dann kann sich das Recruiting daran ausrichten. Dann sucht es die richtigen Leute aus, die auch ins Unternehmen passen. Der Blickwinkel im Recruiting muss sich also erweitern, denn wenn ein Unternehmen seine Leute langfristig halten will – und darum geht es ja –, muss es Versprechen machen, die es nachher auch einhalten kann. Recruiting wird so immer stärker zu einer integrativen Disziplin, die mehr soziologische Elemente der Unternehmenskultur einbinden und ein strategisches Verständnis entwickeln muss, wohin das Unternehmen sich entwickeln soll. Die Unternehmenskultur muss mit den Bedürfnissen der Mitarbeiter übereinstimmen.

Wie sieht das beim Recruiting dann konkret aus?

In der Jobausschreibung sollte die Unternehmenskultur klar zum Ausdruck kommen. Man kann sie nutzen, um sich als Unternehmen vorzustellen und bei den potenziellen Mitarbeitern zu bewerben. Am besten offen und ehrlich. Ein Beispiel: „Bei uns gibt es viel Arbeit, dafür verdienst du auch gutes Geld.“ Wer auf diese erfrischend ehrliche Jobbeschreibung anspricht, ist dann mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der richtige für das Unternehmen. Auch im Bewerbungsgespräch geht es anschließend nicht darum, den Kandidaten ins Kreuzverhör zu nehmen. Viele Unternehmen nutzen das erste Gespräch inzwischen vor allem dazu, sich selbst zu präsentieren. Das erzeugt ein erstes Bild bei Bewerbern. Aber umgekehrt sollte man auch immer wieder ins Unternehmen hineinhorchen, um herauszufinden, wie die Menschen die Kultur tatsächlich wahrnehmen. Durch solche Feedbackschleifen kann ermittelt werden, ob die Erwartungen auch erfüllt wurden. Das ist wichtig, um das eigene Bild und die eigene Entwicklung im Blick zu behalten. So entsteht ein integratives, von Feedbackschleifen geprägtes System, mit dem man in der Zukunft ein erfolgreiches und effizientes Recruiting betreiben kann.

Zukunftstrends schon heute umgesetzt

Walter Novotny, Leiter Personal bei der Wüstenrot AG

Walter Novotny, Leiter Personal bei der Wüstenrot AG

Ein solch ganzheitlicher Ansatz ist auch bei Wüstenrot längst angekommen. Walter Novotny, Leiter Personal beim Finanzunternehmen, sagt: „Bei Wüstenrot verfolgen wir ganz klar den Ansatz, dass unsere Mitarbeiter eine positive und möglichst inspirierende Employee Experience erleben.“ Dies setzt bereits bei den neuen Mitarbeitern an:„Wir haben einen fließenden Übergang von einer Candidate zur Employee Experience. Denn unter den Bewerbern ist ja immer zumindest ein zukünftiger Mitarbeiter. Daher vermitteln 

unsere Recruiter und Führungskräfte schon bei den Vorstellungsgesprächen die Wüstenrot Employee Experience.“ Mehr zur Employee Experience gibt es hier.

Was bedeutet das für die Kandidaten, dürfen die jetzt mehr Ansprüche stellen?

Für die Jobbewerber ist das eine positive Entwicklung: Die Unternehmen gehen stärker auf ihre Bedürfnisse ein und in der Tat dürfen sie höhere Ansprüche stellen. Vordergründig stimmt das. Gleichzeitig ist für Kandidaten damit auch eine Herausforderung verbunden. Denn nun ist ihre Entscheidungsfähigkeit gefragt. Wenn ich nur ein Jobangebt habe, ist es leicht, mich zu entscheiden. Aber wenn mich mehrere Unternehmen umwerben, muss ich mir selbst viel mehr im Klaren sein, was ich eigentlich wirklich möchte. Was passt für mich in meiner aktuellen Lebenssituation? Also auch die Kandidaten müssen sich mehr Gedanken machen. 

Wie wird das Recruiting in zehn oder 20 Jahren aussehen?

Das Recruiting wird viel stärker mit den strategischen Interessen des Unternehmens verzahnt sein und eine zentrale Rolle für die Erreichung der langfristigen Unternehmensziele spielen. Recruiter müssen dann nicht nur Unternehmenssoziologen sein. Sie werden auch die die psychologischen Facetten des Recruitings tiefgreifend verstehen müssen: Was treibt die Leute an, was kann ich ihnen bieten? Es wird sich auch die Art und Weise verändern, wie Recruiter auf die potenziellen Mitarbeiter blicken. Heute stehen die erlernten Tätigkeiten im Fokus. Doch da die Halbwertszeit unseres Wissens in vielen Bereichen immer kürzer wird, kommt es in Zukunft viel stärker darauf an, sich auf die Persönlichkeit zu konzentrieren: Wie geht jemand mit Problemen um, wie schnell passt er sich an neue Gegebenheiten an? Die besonderen Charakteristika einer Person, wie beispielsweise Gewissenhaftigkeit oder soziale Empathie, sind sehr stabil über die Zeit. Damit kann man besser planen als mit konkreten Tätigkeiten, die sich in einem dynamischen Umfeld ständig verändern.

 

Zur Person
Dr. Philipp Hofstätter stammt aus Graz. Nach seinen Studien der Philosophie, Soziologie und Wirtschaft sammelte der Steirer mehrere Jahre Erfahrung in der IT-Industrie. Hier erfuhr er viel über neue Methoden der Zusammenarbeit und des Managements. Als Mitgründer eines Start-ups lernte er, seinen unternehmerischen Blick zu schärfen. Als Partner des Zukunftsinstituts unterstützt er heute Unternehmen dabei, neue Perspektiven einzunehmen, um den Herausforderungen des sich dynamisch entwickelnden wirtschaftlichen Umfelds zu begegnen. Er ist Co-Autor des Buches: Workbook Human Resource Management, 240 Seiten, erschienen beim Zukunftsinstitut im März 2020.