Pilgerstätte für einen Auto-Pionier

Zu Besuch im Siegfried-Marcus-Automobil-Museum.

Autoliebhaber rätseln bis heute, wer das erste Kraftfahrzeug erfunden hat. Waren es Carl Benz und Gottlieb Daimler? Oder der Wiener Einzelgänger Siegfried Marcus? Im niederösterreichischen Stockerau führt Philipp Malek das Siegfried Marcus-Automobil-Museum in zweiter Generation weiter. Es ist in dreißig Jahren zum Wallfahrtsort für eingefleischte Fans vergangener Fahrzeug-Epochen geworden.

Am Anfang war das Cabrio. Schlicht und naturbelassen in der Ausstattung. Die Karosserie ist aus geraden, harten Eichenholzplanken gezimmert, der Fahrersitz hat nicht mal eine Rückenlehne. Vor der Rückbank sind keine Bodenbretter eingelassen, das Lenkrad ist eine simple Stahlkurbel. Doch wen schert die Bequemlichkeit, wenn es um ein Wunderwerk geht? Kaum auszudenken, was die Menschen in Wiens Straßen empfunden haben mögen, als der Mechaniker, Erfinder und Kaffeehausliebhaber Siegfried Marcus (1831 bis 1898) mit seinem zweiten benzingetriebenen Automobil beim Café Gabesam vorfuhr, in dem er regelmäßiger Gast war. Damals, vor rund 130 Jahren.

Viele Gäste kennen haben die Fahrzeuge noch im Einsatz erfahren
© Siegfried Marcus Automobilmuseum

Viele Gäste kennen haben die Fahrzeuge noch im Einsatz erfahren

Wann genau Siegfried Marcus den Prototypen seines sogenannten Zweiten Marcus-Wagen entwickelt und gebaut hat, weiß nicht einmal Peter Malek, und der leitet immerhin das Siegfried Marcus-Automobilmuseum in Stockerau, 25 Kilometer nördlich von Wien. Der 43-jährige Inhaber eines Obst- und Gemüseimports auf dem Großgrünmarkt der Hauptstadt führt das Lebenswerk seines Vaters Peter Malek (1939 bis 2014) fort. Der Senior hatte 1986 das Museum mit Oldtimern aus Österreich, Deutschland und England gegründet – und Siegfried Marcus gewidmet. Eine museumseigene Stiftung erforscht die Pioniertaten des legendären Tüftlers.

Unter Freunden historischer Fahrzeuge ist es jedoch umstritten, ob Marcus tatsächlich als Erfinder des Automobils anzusehen ist – oder nicht doch Carl Benz und Gottfried Daimler der Ruhm gebührt. Benz hatte 1885 ein dreirädriges Gefährt mit Verbrennungsmotor und elektrischer Zündung gebaut und es mit 0,8 PS auf seinerzeit sagenhafte 16 Stundenkilometern beschleunigt. Kurz darauf entwickelte Daimler zusammen mit Wilhelm Maybach das erste Kraftfahrzeug mit Verbrennungsmotor auf vier Rädern. Siegfried Marcus baute wohl 1870 sein erstes, mit Benzinmotor getriebenes, Straßenfahrzeug und 1888/89 das zweite Fahrzeug, das heute im Technischen Museum in Wien zu bewundern ist. Allerdings gelten die Datierungen der Marcus-Autos als unzuverlässig.

„Im Grunde ist es ganz egal, ob Marcus oder Gottlieb Daimler das erste Auto entwickelt hat“, sagt Philipp Malek. Ihm liegt die historische Bedeutung von Marcus’ frühen Erfindungen am Herzen. Entsprechend stolz ist Malek über die funktionstüchtige Replik des weltberühmten Zweiten Marcus-Wagens, den die Bundeslehranstalt HTL Steyr in zwölfjähriger Arbeit nachkonstruiert hat, und die heute als Glanzstück im Marcus-Museum steht. 

Der Nachbau des zweiten Marcus-Wagens ist das Highlight der Ausstellung
© Siegfried Marcus Automobilmuseum

Der Nachbau des zweiten Marcus-Wagens ist das Highlight der Ausstellung

Wer war dieser Siegfried Marcus? Geboren wurde er in Mecklenburg-Vorpommern, sein Vater war Kaufmann und im Vorstand der jüdischen Gemeinde aktiv. Mit 21 Jahren zog Siegfried Marcus nach Wien und blieb hier sein Leben lang. Schon bald eröffnete er seine eigene Werkstatt und baute die vielfältigsten Geräte: Telegraphen, elektrische Zünder für militärische und zivile Zwecke, elektrische Leuchtkörper, Vergaser und Motoren. Rund 130 Patente im In- und Ausland kamen insgesamt zusammen. 

Auf der Pariser Weltausstellung erhielt er eine Silbermedaille, Kaiser Franz Joseph I. ehrte ihn ebenfalls. Heute ruht Marcus in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof. Später wollten die Nazis seine Leistungen wegen seiner jüdischen Herkunft vertuschen. Aus dem Reichspropagandaministerium erging 1936 die Anweisung, den Namen Siegfried Marcus „aus dem deutschen Schrifttum auszumerzen“. 

So empfindet es Philipp Malek auch als einen Akt der historischen Wiedergutmachung, wenn er die Erinnerung an Marcus in Stockerau lebendig hält. Von Ende November bis Ende März sind jährlich wechselnde Ausstellung im Museum zu besichtigen, die aktuelle zum Thema „60 Jahre Puch 500“. Bis zu 1.500 Besucher pro Saison bestaunen die Exponate an den Wochenenden zwischen 14 und 16 Uhr. „Wir haben nicht viele, aber interessante Besucher“, sagt Philipp Malek. Er liebt es, wenn seine Gäste, von den alten Fahrzeugen angerührt, in eigenen Erinnerungen schwelgen. „Die Emotionen spielen hier eine große Rolle.

1987 war sogar David Hasselhof zu Gast in Stockerau
© Siegfried Marcus Automobilmuseum

1987 war sogar David Hasselhof zu Gast in Stockerau

Das „Old-School-Gefühl“ nennt er das. Autos aus vergangenen Tagen, das ist „Technik, die funktioniert“, Wunderwerke mechanischer Handarbeit, „Kunst auf vier Rädern“. Ein hundertköpfiger Freundeskreis von Autofans wirkt im Hintergrund mit. Aus diesem Netzwerk stammen die Leihgaben – zumeist noch fahrtüchtige Fahrzeuge.

In den Sommermonaten ist das Museum geschlossen. Dann werden neue Ausstellungen vorbereitet und die fahrtauglichen Oldtimer über Land bewegt. Philipp Malek schwärmt von den Touren ins umliegende Weinviertel an der Seite seiner Lebensgefährtin: „Nichts ist schöner, als in einem offenen alten Auto die Sonne, die Luft und die Landschaft zu genießen.“ Und einmal pro Jahr unternehmen die Museumsfreunde in Erinnerung an den Museumsgründer eine gemeinsame Peter-Malek-Gedächtnis-Ausfahrt.

UNSER BUCHTIPP

Von August Otto stammt der Benzin-Motor, von Daimler und Benz das Automobil, so die allseits bekannte Erfindungsgeschichte des Automobils. Doch es gibt auch noch eine andere Theorie, nach der der 1831 im mecklenburgischen Malchin geborene Siegfried Marcus nicht nur Benzin, Zündung und Vergaser, sondern auch das erste Auto in Wien entwickelt hat. Das Buch „Siegfried Marcus – Erfinder des Automobils“ schildert diese Version der Geschichte, die bis heute umstritten ist.

Das Buch kann für 28 Euro zuzüglich Versand per E-Mail an info@siegfried-marcus.at bestellt werden.