Kinder trösten:
Gesunder Umgang bei Krebs in der Familie

Mama hat den Krebs besiegt, die Familie könnte aufatmen. Doch plötzlich beginnt Saskia sich eigenartig zu verhalten. Solche Spätreaktionen sind häufig. Was tun?

Wenn die Mutter an Krebs erkrankt ist, sollte sie offen mit dem Kind darüber reden. Alles andere schürt nur Ängste beim Kind.
© iStock | Christopher Futcher

Wenn die Mutter an Krebs erkrankt ist, sollte sie offen mit dem Kind darüber reden. Alles andere schürt nur Ängste beim Kind.

Saskia ist zehn Jahre alt. Früher war sie ein lebhaftes Kind, sie spielte gerne draußen mit ihren Freundinnen und malte bunte Bilder. In letzter Zeit kann sie nicht mehr schlafen und klagt über Schwindelanfälle, sie will nicht in die Schule. Als sie neulich mit der Mutter einen Einkaufsbummel machte, fing plötzlich alles an, sich zu drehen. Beinah wurde Saskia ohnmächtig. „Was ist nur los mit dir?“, fragt ihre Mama immer wieder. Der Neurologe und andere Ärzte konnten körperlich nichts Auffälliges feststellen. Doch Saskia hat Angst umzufallen.

Die Eltern sind ratlos. Saskia war doch so stark. Die Krebserkrankung der Mutter hat sie gut weggesteckt. Sie war immer Mamas kleiner Sonnenschein, deckte den Abendbrottisch oder malte Bilder für Mama, wenn diese mutlos war. Saskia schien mit allem klarzukommen. Jetzt ist die Mutter geheilt, der Brustkrebs ist seit einem Jahr besiegt. Alles könnte gut sein. Was hat Saskia plötzlich?

„Ein bis zwei Jahre nach einer Krebserkrankung in der Familie kann es zu Spätreaktionen kommen.“

Jutta Steinschaden, Österreichische Krebshilfe Wien

Bettnässen, Kopfschmerzen, Schulprobleme

Jutta Steinschaden von der Österreichischen Krebshilfe Wien erklärt es den Eltern in einem Beratungsgespräch: „Während der Erkrankung eines Elternteils schalten Kinder häufig in den Notfallmodus“. Die Psychologin betreut schon seit zehn Jahren das Projekt „Mama/Papa hat Krebs“, das sich an Minderjährige mit krebskranken Eltern wendet. Auch Saskias Eltern holen sich hier Hilfe. „Die Kinder passen sich an und wollen keine zusätzliche Belastung für die kraftlosen Eltern sein. Erst im Nachhinein spüren die Kinder: Jetzt ist wieder Platz für mich und meine Probleme.“ Deshalb könne es ein bis zwei Jahre nach der Krebserkrankung zu Spätreaktionen kommen. Kinder wie Saskia, so erfahren die Eltern, nässen plötzlich ein, haben Kopfschmerzen, vermehrte Infekte oder kommen nicht mehr in der Schule klar. Die psychische und körperliche Palette an Symptomen ist vielfältig.

Saskia versteckt sich immer öfter unter der Bettdecke und hält sich den Kopf. Nur wenn Mama hereinkommt und ihr einen Tee bringt, fühlt sie sich etwas besser. Die Eltern ziehen einen Psychologen hinzu, Saskia geht einmal wöchentlich zur Therapie. Dort schauen sie gemeinsam ihre Symptome an. Saskia fällt ein, dass auch der Mutter oft schwindelig war, wenn sie von der Chemotherapie zurückkam. Sie setzte sich dann gerne in den Sessel, nahm Saskia auf den Schoß und murmelte „Du bist mein Engel, mein Lebenswille.“ Saskia versuchte dann, stark und glücklich zu sein – damit die Mutter überlebte. Von ihren Problemen mit Mathe oder den fiesen Hänseleien auf dem Schulhof erzählte sie nichts. Jetzt erst merkt Saskia, wie hilflos sie sich damals fühlte. Ohnmächtig.

Die Broschüre „Mama/Papa hat Krebs“ gibt wertvolle Tipps im Umgang mit einer Krebserkrankung den Kindern gegenüber.

Die Broschüre „Mama/Papa hat Krebs“ gibt wertvolle Tipps im Umgang mit einer Krebserkrankung den Kindern gegenüber.

DER RICHTIGE UMGANG

Wie lassen sich Spätreaktionen auf eine Krebserkrankung der Eltern verhindern? Die Österreichische Krebshilfe Wien empfiehlt eine offene Kommunikation von Anfang an. Auch Vierjährige dürfen wissen, dass das Elternteil Krebs hat. Wichtig ist es zu erklären, dass niemand Schuld hat. Besonders Kinder im Vorschulalter glauben oft, wenn sie artiger gewesen wären, hätte die Mutter keinen Krebs bekommen. In der Pubertät wiederum geraten die Jugendlichen oft in einen Konflikt, weil der anstehende Ablösungsprozess unterbrochen wird und sie dem Elternhaus gegenüber loyal sind. Kinder wie Jugendliche sollten ausdrücklich die Erlaubnis bekommen, fröhlich zu sein. Die kostenlose Broschüre „Mama/Papa hat Krebs“ der Krebshilfe Wien gibt viele weitere hilfreiche Tipps. Ein persönliches Gespräch lässt sich unter der Nummer 0800 699 900 vereinbaren.

Broschüre zum Herunterladen

Schwindel und Niedergeschlagenheit können auch Jahre nach der Krebserkrankung eines Elternteils die Nachwirkungen derselben bei den Kindern sein.
© iStock | Ridvan Celik

Schwindel und Niedergeschlagenheit können auch Jahre nach der Krebserkrankung eines Elternteils die Nachwirkungen derselben bei den Kindern sein.

Wie belastbar sind die Eltern wieder?

Neulich hat sie während der Therapiestunde ein Bild gemalt, auf dem eine grimmige schwarze Wolke über der Familie lauert. Der Psychologe wollte wissen, woran Saskia dabei denken müsse. Sie erinnerte sich an das Gefühl, dass sich etwas in ihre Familie einschlich, von dem sie nicht wusste, was es war. Da war sie in der ersten Klasse. Die Mutter hatte plötzlich verweinte Augen und hörte nicht mehr richtig zu. Der Vater wurde immer stiller. Saskia fragte sich, ob es an ihr lag. Machte sie etwas falsch? Erst später, als sie schon fast in der dritten Klasse war, sagten die Eltern, dass Mama Knoten in der Brust hatte, die dort nicht hingehörten.

„Wir wollten unsere Tochter so lange wie möglich beschützen und ihr einen normalen Alltag ermöglichen“, sagt die Mutter heute. „Darum haben wir ihr anfangs nichts von meiner Erkrankung erzählt. Wir wollten ihr keine Angst machen.“ So denken viele Eltern – und verstärken damit die Angst. Den Kindern fehlt dann die Möglichkeit, sich mit dem, was in der Familie vorgeht, auseinanderzusetzen – und einen Umgang damit zu finden.

Nach ein paar Monaten Therapie fürchtet Saskia nun nicht mehr, ohnmächtig zu werden. Es hat ihr geholfen, mit dem Psychologen zu sprechen und auch mit ihren Eltern. Über diese lähmende Angst, Mama könne umfallen und sterben. Der Psychologe erklärte den Eltern, dass Saskias Spätreaktion unbewusst auch ein Versuch sei, zu testen, wie belastbar die Eltern wieder sind. Da gehe es um die Frage „Bist du stark genug, mich zu halten?“ Die Mutter setzte sich daraufhin eines Abends an Saskias Bett, nahm ihre Hand und sagte fest: „Ich kann für mich selbst sorgen. Das ist nicht deine Aufgabe. Du bist mein Kind.“ Saskia schlief in dieser Nacht so gut wie lange nicht mehr. Eine Woche später kam sie ins Wohnzimmer und sagte: „Mama, ich möchte spielen gehen.“

Weltweit ist bei bis zu 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen ein Elternteil schwer erkrankt – ein Umstand, der zu seelischen Gesundheitsproblemen führen kann.
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Weltweit ist bei bis zu 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen ein Elternteil schwer erkrankt – ein Umstand, der zu seelischen Gesundheitsproblemen führen kann.

GEFÄHRDETE SEELE

In Deutschland, Österreich und der Schweiz sind jedes Jahr rund 200.000 Kinder und Jugendliche von der Krebserkrankung eines Elternteils betroffen. Daten des U.S. National Health Centers zeigen, dass in westlichen Industrieländern bei fünf bis 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen ein Elternteil schwer erkrankt. Schon seit den Sechzigerjahren weiß man, dass diese Kinder ein erhöhtes Risiko haben, seelische Gesundheitsprobleme zu entwickeln. Trotzdem wird ihre Perspektive als Mitbetroffene erst seit einigen Jahren mehr und mehr beachtet.