„Den Kontrollverlust durch das Virus können Menschen nicht gut ertragen“

In der Corona-Pandemie sind wir alle ein wenig zu Hypochondern geworden. Tatsächlich zahlt sich eine besondere Achtsamkeit aus, sagt Jakob Hein, Psychiater und Autor von „Hypochonder leben länger“ im Interview mit MEIN LEBEN.

Jakob Hein ist Pychater und Schriftsteller

Jakob Hein ist Pychater und Schriftsteller

Herr Hein, machen sich Ihre Patienten in der psychiatrischen Praxis seit Beginn der Pandemie mehr Sorgen über ihre Gesundheit als vorher?

Ja, alle Menschen und auch meine Patienten machen sich momentan viel mehr Sorgen um ihre Gesundheit. Es gibt eigentlich kein Fünf-Minuten-Gespräch, in dem es nicht um Corona geht – es sei denn bei den ausführlichen Patientengesprächen.

Es gibt also eine gesteigerte Wahrnehmung?

Die Situation ist ja total neu, so sehr alle Corona-überdrüssig sind, so sehr ist die Pandemie dennoch lebensbestimmend. Man kann im Moment gar nicht über das Leben sprechen, ohne über Corona zu reden.

Wie definieren Sie den Unterschied zwischen Achtsamkeit oder gewöhnlicher Gesundheitsvorsorge und Hypochondrie?

Das ist eine schwierige Frage, denn es gibt oft keine so klaren Grenzen. In den psychologischen Wissenschaften haben wir immer unscharfe Bereiche: Es gibt die Achtsamkeit, die erhöhte Achtsamkeit und dann die Hypochondrie. Die Hypochondrie definiert sich aus dem Patienten heraus, indem dieser sagt: „Ich kann wichtige Lebensziele nicht mehr erreichen, ich stehe mir selbst im Weg, meine Krankheit bestimmt mein Leben in einem Maß, wie ich es mir nicht wünsche und ich mich nicht wohlfühle.“ Es geht immer darum, dem Patienten zu helfen, aber dafür braucht es einen Ansatz zur Hilfe. Mit Corona ist die Hypochondrie eher eingefangen worden, weil man sich plötzlich beliebig krankheitsbesorgt verhalten darf und es gesellschaftlich akzeptiert ist. Wenn ich vor einem Jahr mit Maske rumgelaufen wäre, wäre ich schon als hypochondrisch oder übermäßig besorgt eingeschätzt worden und heute sehe ich kaum jemanden, der keine Maske trägt. Das finde ich sehr interessant. Durch die Pandemie erleben wir, dass Besorgtheit und Krankheit immer in einen Kontext eingebettet sind.

Hypochonder gehen früher zum Arzt und leben deshalb länger.

Hypochonder gehen früher zum Arzt und leben deshalb länger.

Verschiedene Studien belegen, dass Hypochonder länger leben. Das ist ja auch Ihre These. Warum wirkt sich das Leiden nicht negativ auf die Gesundheit aus?

Beim Hypochonder spielen zwei Faktoren eine Rolle: Die übermäßige Besorgtheit veranlasst Hypochonder dazu, früher zum Arzt und zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen und sich stärker um Symptome zu kümmern. Deshalb leben sie länger als die Vergleichsgruppen in den Studien. Sie leben aber auch nur ein bisschen länger, denn der Leidensdruck bei Menschen, die man als hypochondrisch einschätzt, ist auch ein Stressfaktor, der nicht zu unterschätzen ist. Stark hypochondrisch zu leben ist nicht angenehm und die gewonnenen Lebensjahre sind sorgfältig mit der verlorenen Lebensqualität abzuwägen.

Finden sich in unterschiedlichen Alters- oder Bevölkerungsgruppen besonders viele Hypochonder oder ist das überall gleich?

Eine Studie im American Journal of Psychiatry fand keine Belege dafür, dass eine Altersgruppe oder ein Geschlecht für Hypochondrie besonders anfällig ist.

Das Buch von Jakob Hein ist im Galiani Verlag erschienen.
© Galiani Verlag (www.galiani.de)

Das Buch von Jakob Hein ist im Galiani Verlag erschienen.

Aber nimmt nicht im Alter automatisch die Vorsicht und die Fokussierung auf das Thema Gesundheit zu?

Je weniger Restleben wir haben, desto sorgfältiger gehen wir damit um. Die Jugend hat das Privileg, sich so zu verhalten, als hätte sie noch ein Leben im Kofferraum liegen, und wir älteren Menschen gucken eher, was mit unseren letzten Jahren ist, die wir noch genießen wollen. Die Überlegung lässt sich zwar nachvollziehen, aber nicht durch Untersuchungen begründen.

Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf die Pandemie: Es gibt sehr vorsichtige Menschen, die womöglich auch zu einer Risikogruppe

gehören, Corona-Leugner, die keine Masken tragen wollen, Impfskeptiker oder sogar Impfgegner. Was passiert da aus der Sicht des Psychiaters?

Der gemeinsame Faden dieser unterschiedlichen Reaktionen ist, dass es immer sehr stark um Kontrolle geht. Das Virus lässt uns die Kontrolle komplett verlieren und das können wir Menschen nicht gut ertragen. Immerhin haben wir unseren Kontrollverlust schon so weit kompensiert, dass wir das Virus entdeckt und erforscht haben. Das ist nicht selbstverständlich, denn Viren sind ja unentdeckbar klein und mit unserem optischen Apparat ohne Hilfsmittel nicht zu sehen. Alle Viren, die momentan die Welt in Schach halten, wiegen fünf Gramm! Ich war kein so schlechter Student, aber das einzige, woran ich mich bei Virologie erinnere ist, dass Virologie verdammt schwer ist. Ich bewundere die Virologen, weil die ein wirklich schweres Feld beackern. Und ich bewundere besonders all die Hobby-Virologen, die alles besser wissen, als die, die sich damit schon lange ernsthaft befassen (lacht). Es geht immer um Kontrolle, deshalb haben die Menschen am Anfang alle Klopapier gekauft und sich über Klopapier unterhalten. Aber jetzt wissen wir einiges über Viren und das ist wirklich kompliziert zu verstehen. Deshalb ist es sehr sinnvoll, sich kritisch auf die Meinung von Experten zu verlassen. So können wir Kontrolle wiedergewinnen, indem wir uns von einer väterlichen oder mütterlichen Figur beschützen lassen. Aber einige Leute hassen das und sagen, „nein, ich weiß es besser“.

Was ist denn eine positive Reaktion auf die Pandemie im Sinne der Gesundheit?

Also mir hilft es, gut gelaunten Menschen zu begegnen, in welcher Form auch immer. Zum Beispiel wenn jemand eine gute oder witzige Idee über soziale Medien teilt. Ich habe auch sehr oft am Tag schlechte Laune. Aber die bringt mich nicht voran. Psychotherapeuten haben sich eine Lösungsorientierung beigebracht, weil wir wissen, dass die Probleme der Welt immer unendlich sind. Im Rahmen der Pandemie hätte ich mir sehr oft gewünscht, dass eine Lösungsorientierung für jeden im Vordergrund steht. Einem Hypochonder würden wir empfehlen, an etwas anderes als seine Krankheit und die Symptome zu denken und sich auf Dinge zu konzentrieren, die schön sind und Freude machen. Denn die andauernde Beschäftigung mit den Symptomen, führt nicht von der Hypochondrie weg, sondern im Gegenteil zu einer Verfestigung der Symptomatik.

Was wird sich verändern, wenn wir alle geimpft sind und wieder ein normales Leben führen? Wird sich das Gefühl der gesundheitlichen Gefährdung schnell auflösen oder werden wir auch weiterhin bei jedem Schnupfen alarmiert sein?

Ich denke, dass es eher eine vorsichtige Öffnungsbewegung geben wird. Denn die Berichterstattung wird umschlagen und Medien werden mehr darüber berichten, was alles wieder geht.

Verändert uns Corona für immer?

Ich hoffe, dass eine gewisse Nachdenklichkeit bleibt und ein Bewusstsein dafür, dass unser Handeln Konsequenzen hat. Wir haben etwa gemerkt, dass es nicht wichtig ist, sich jede Saison eine neue Kollektion Klamotten zu kaufen. Ich zum Beispiel werde auch in Zukunft mein Brot selbst backen.

Sie haben in der Pandemie Ihr Brot selbst gebacken?

Wir haben seit einem Dreivierteljahr kein Brot gekauft. Ich habe momentan mehr Zeit und mir deshalb ein Hobby gesucht. Und das Backen ist toll, ein großer Genuss! Das sehe ich auf der Habenliste und werde es deshalb weitermachen.

Der Schriftsteller Jakob Hein lebt in Berlin und arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Psychiater. Er liebt seinen medizinischen Beruf mindestens genauso sehr wie das Verfassen von Romanen. Hein hat inzwischen 17 Bücher veröffentlicht, darunter „Mein erstes T-Shirt“ (2001), „Herr Jensen steigt aus“ (2006), „Wurst und Wahn“ (2011), „Kaltes Wasser“ (2016) und „Die Orient-Mission des Leutnant Stern“ (2018). Sein Buch „Hypochonder leben länger und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis“ (2020) stand nach dem Erscheinen wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste.