Bequemlichkeit:
Warum Nichtstun so wichtig ist

In unserem hektischen Alltag entdecken wir die Muße wieder: In den Phasen bewusster Faulheit erholt sich unser Gehirn, sortieren sich unsere Gedanken und wir werden von neuen Ideen beflügelt. Aber wenn Müßiggang zur Trägheit wird, kann er uns schaden: Zehn Schritte aus der Untätigkeit

Das Leben ist voller Widersprüche und die Kreativität ist ein gutes Beispiel dafür. Denn oft kommen wir auf die besten Ideen, wenn wir an etwas ganz anderes denken, als an das anstehende Problem. Beim Einschlafen, Kochen, Basteln, Spazierengehen, unter der Dusche oder bei der Gartenarbeit ereilen uns häufig jene erlösenden Gedanken, über die wir zuvor verbissen und vergebens gegrübelt haben. Der Grund ist einfach: Erst wenn der Druck, der Stress, die Angst wegfällt, öffnet sich unser Bewusstsein für neue Lösungen. Bis dahin sind wir gefangen in unseren gewohnten Denkmustern und blockiert für schöpferische Einfälle.

Das ist die positive Seite des Nichtstuns, des Faulenzens, der Bequemlichkeit. Müßiggang ist die elegante Bezeichnung dafür. Kluge Köpfe wussten die Muße stets zu schätzen. Der französische Dichter Saint-Pol-Roux zog sich zum Mittagsschlaf zurück und hängte an die Tür das Schild: „Poet bei der Arbeit“, weil er sich vom Nickerchen Inspirationen erwartete. Isaac Newton fand zu seiner Gravitationstheorie, als er im Obstgarten gedankenverloren einen Apfel betrachtete. Der Chemiker Friedrich Kekulé erträumte die lang gesuchte Struktur des Benzolrings im Schlaf. Und der Begründer des modernen Rationalismus, René Descartes, hing seinen Gedanken am liebsten morgens im Bett nach.

Leerlauf im Kopf sortiert unsere Gedanken

Moderne Hirnforscher wissen, wie wichtig die Zeiten sind, in denen wir uns regenerieren können. Neurobiologische Experimente belegen, dass unser Gehirn auf die Phasen des Nichtstuns angewiesen ist. Nur ein gewisser Leerlauf im Kopf erlaubt es uns, die Gedanken zu sortieren und für geistige Stabilität zu sorgen.

Es gibt aber auch eine Kehrseite der Bequemlichkeit. Der technische Fortschritt beschert unserer Wohlstandsgesellschaft immer wieder neue Konsumgegenstände, die unser Leben komfortabler und angenehmer machen sollen. Der Saugroboter reinigt unsere Fußböden sogar in unserer Abwesenheit, der digitale Kühlschrank bestellt selbsttätig beim Supermarkt die Lebensmittel, die zu Neige gehen, im Smart Home reagiert die Beleuchtung über Sensoren, wenn wir einen Raum betreten.

Doch diese schöne neue Welt verleitet uns auch zunehmend zu Untätigkeit. Die damit einhergehende Bewegungsarmut kann uns gesundheitlich schaden, Übergewicht und Kreislauferkrankungen können die Folge sein. Dazu gesellen sich inmitten der willkommenen Bequemlichkeit häufig Gefühle der Unlust, der Unproduktivität und der Langeweile. So verführerisch die Vorstellung ist, den ganzen Tag auf dem Sofa zu liegen, irgendwann verspüren wir wieder den Drang, uns sinnvoll zu betätigen. Es regt sich das Bedürfnis, unsere Selbstwirksamkeit zu erleben, wie es Psychologen ausdrücken.

Selbstwirksamkeit ist eng verknüpft mit unserem Selbstwertgefühl. Wir Menschen sind schöpferische Wesen. Untätigkeit kann zur Qual werden, wenn sie erzwungen wird. In unserer Leistungsgesellschaft, die Wert legt auf Wachstum, Konsum und Erlebnissteigerung, erleben Arbeitslose die erzwungene Entschleunigung als schmerzhafte Demütigung.

Die Lebenskunst des Faulseins

Die richtige Art des Faulseins und der Bequemlichkeit will also gelernt sein. Die österreichische Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny hat herausgefunden, dass die Lebenskunst des Müßiggangs nichts damit zu tun hat, wieviel Freizeit uns zur Verfügung steht, sondern welche Haltung wir dazu einnehmen. Nowotny sagt: „Muße ist die Intensität des Augenblicks, der sich zeitlich zu Stunden oder Tagen ausdehnen kann, um sich auf ein Einziges zu konzentrieren: Eigenzeit.“ Das schöne Wort Eigenzeit kann ein inspirierendes Gespräch bedeuten, den genussvollen Besuch eines Musikkonzerts oder auch ein Arbeitsprojekt, das unser Interesse fesselt. Immer geht es dabei Nowotny zufolge um „die Übereinstimmung zwischen mir und dem, worauf es in meinem Leben ankommt“.

Der US-Psychologe Mihály Csíkszentmihályi hat für diesen Zustand der Übereinstimmung den Begriff Flow erfunden. Gemeint ist ein mentaler Zustand des restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit, eine Art Schaffensrausch. Wenn ein kleines Kind versunken mit Spielzeugautos Teppichmuster abfährt, befindet es sich im Flow. Oder wenn ein Pianist eine Klaviersonate spielt und gleichsam innerlich abhebt. Aber auch wenn eine Krankenschwester sich uneigennützig der Pflege eines Patienten hingibt, können mitunter Flow-Gefühle entstehen. In einer solchen Versunkenheit in unsere Tätigkeit erleben wir Menschen ein hohes Maß an Übereinstimmung mit uns selbst und eine Sinnstiftung, die uns beflügelt.

Bloßes Abhängen kann unerträglich sein

Die erfüllende Muße, die erholsame und kraftspendende Faulheit und Bequemlichkeit ist demnach auf diese Art innerer Übereinstimmung mit unseren Neigungen angewiesen. Fehlt diese Übereinstimmung, ist das Nichtstun ein bloßes Abhängen, das schnell unerträglich wird. Dann verspüren wir eine quälende Unruhe, die wir aus dem hektischen Alltag kennen und der wir uns durch Faulsein entziehen wollten.

Die Unternehmensberaterin und Meditationslehrerin Nicole Stern hat ein Buch darüber geschrieben: „Das Muße-Prinzip – Wie wir wirklich im Jetzt ankommen“. Muße, sagt sie, ist „das erfüllende Gefühl, einfach Da-Zu-Sein. In der Regel ordnen wir all unser Handeln einem Zweck unter. In der Muße gibt es diese Zielorientierung nicht mehr und wir kommen im Jetzt an. Das Müssen fällt weg.“ Die Muße kann uns verwandeln, sagt Stern. „Sie ist ein kraftvolles Lebensprinzip und führt zu innerer Ruhe und Ausgeglichenheit, sie hilft uns, neue Sichtweisen und Gewohnheiten einzuüben und schenkt uns neue Freiheit.“ Sogar die Qualität unserer Beziehungen wird dadurch verbessert. Muße kann „in unsere Arbeit hineinwirken und letztendlich unsere Gesellschaft mitprägen“.

Die Windstille der Seele genießen

Sie selbst, erzählt Nicole Stern, hatte früher „das Nichtstun mit dem unangenehmen Gefühl verbunden, zu nichts nutze zu sein. Dieser Glaubenssatz berührt empfindlich das Selbstwertgefühl“. Irgendwann hat sie es sich erlaubt, das Nichtstun zu lernen, eine Achtsamkeit- und Meditationspraxis hat ihr dabei geholfen. Nach einer Weile konnte sie das genießen, was der Philosoph Friedrich Nietzsche so poetisch die „Windstille der Seele“ nennt.

Wege aus der Trägheit

Die spanische Psychologin Andrea Garcia Cerdán warnt hingegen vor jener Faulheit und Bequemlichkeit, die uns nur träge sein lässt. Das Gefühl von Nutzlosigkeit, sagt Cerdán, „wirkt sich auf unser Selbstbewusstsein aus und kann uns bis in die Depression führen“. Wir schätzen uns mehr wert, wenn wir auch weniger angenehme Aufgaben erfolgreich ausführen. Deshalb empfiehlt sie zehn Schritte auf dem Weg aus der Trägheit:

  1. Stell dir dein Ziel vor: Was willst du im Leben erreichen? Denke nicht zu bescheiden von dir – stell dir ein Ziel vor, auch wenn du es dir momentan noch gar nicht vorstellen kannst, es erreichen zu können. Wichtig ist, dass du selbst es wirklich möchtest.
  2. Entwirf einen Plan: Unterteile deinen Weg zum Ziel in überschaubare Handlungsschritte. Du willst einen Job finden? Dann gehe konkret vor: Schreibe einen Lebenslauf, suche Stellenangebote, knüpfe Kontakte.
  3. Gehe Schritt für Schritt vor: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Beginne mit kleinen Aufgaben. Jedes minimale Erfolgserlebnis ermutigt dich zu weiteren Aktivitäten.
  4. Trau dich einfach mal: Das Gefühl, etwas nicht zu schaffen, können wir überlisten, indem wir uns klarmachen, dass wir durch Versuch und Irrtum dazulernen. So wächst der Mut, auch schwierige Herausforderungen anzugehen.
  5. Führe ein Erfolgs-Tagebuch: Notiere dir jeden Tag deine Erfolge – große wie kleine. So wird dir bewusst, dass du deinem Ziel näherkommst.
  6. Mach dein Ziel zur Verpflichtung gegenüber anderen: Weihe dein Umfeld in deine Vorhaben ein. Deine Verwandten und Freunde schaffen dadurch eine Motivation, die dir helfen wird.
  7. Steigere die Schwierigkeit: Nach den ersten Schritten wirst du merken, dass du bald keine schnellen Erfolge mehr brauchst und du entwickelst die Ausdauer für langfristige Ziele.
  8. Belohne dich zwischendurch: Erholung ist etwas anderes als Faulheit, denn Erholung ist die Belohnung für die Bewältigung einer Aufgabe. Nach einer Anstrengung ist eine Ruhephase wichtig.
  9. Pflege dein Selbstwertgefühl: Trägheit ist oft das Resultat eines Minderwertigkeitsgefühls. Mach dir bewusst, wie erfolgreich du deine Aufgaben erledigst und dass nur dir dieser Erfolg letztlich zu verdanken ist.
  10. Schluss mit negativen Gedanken: Oft verwechseln wir Pessimismus mit Realismus, doch die Annahme, alles läuft schief und wir seien unfähig, blockiert uns unnötig. Andere schaffen es doch auch – warum also nicht du?

Wer die Trägheit überwunden und das eigene Selbstwertgefühl stabilisiert hat, wird seinen jeweils persönlichen Rhythmus finden zwischen zielgerichteter Aktivität und spielerischem Müßiggang, zwischen Anstrengung und Erholung. Dann wird der süße Duft der Faulheit, das erfüllende Flow-Gefühl, immer wieder auch in die Arbeit eindringen und sie sinnvoller machen.