„Abstinenz ist bei Online-Sucht unmöglich“

Das Internet nimmt eine immer wichtigere Rolle in unserem Leben ein. Social Media und Games können sogar zur Sucht werden. MEIN LEBEN hat mit dem Facharzt Dr. Roland Mader vom Anton Proksch Institut über Online-Sucht gesprochen und darüber, wie man ihr vorbeugt.
(Artikel aus dem Herbst 2020)

Roland Mader, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin
©API

Roland Mader, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin

Herr Mader, woran erkenne ich, dass jemand online-süchtig ist?

Sie erkennen das primär daran, dass ein Mensch andere Dinge im Leben zugunsten der Online-Welt vernachlässigt. Dass jemand zum Beispiel weniger soziale Kontakte von Angesicht zu Angesicht hat, dass er Freundschaften nicht mehr pflegt, seinen Hobbys nicht mehr nachgeht, weniger Zeit mit seinen Lieben verbringt und sich zunehmend sozial zurückzieht.

Wer erkennt das zuerst, die Betroffenen selbst oder andere? 

Es fällt zuerst dem Umfeld auf, den Betroffenen meist erst viel später. Denn sie selbst fühlen sich ja nicht einsam, weil sie ihre Sozialkontakte scheinbar in sozialen Netzwerken finden, sie fühlen sich aufgenommen, zugehörig und geborgen. Das Umfeld bemerkt jedoch sehr wohl, dass der soziale Kontakt in der realen Welt immer weniger wird.

Also sollte man die Betroffenen darauf aufmerksam machen?

Ja, das sollte man ansprechen. Zum Beispiel in dem man sich in der realen Welt verabredet: „Komm lass uns mal treffen, wir haben uns lange nicht unterhalten. Wir könnten mal wieder Spazierengehen.“

Und wenn der Angesprochene das ablehnt, weil er vermeintlich keine Zeit hat?

Ich würde hartnäckig bleiben, verbindlicher werden: „Wann hast du denn mal wieder Zeit?“ Wenn das alles nichts nützt, würde ich dem Betroffenen sagen: „Ich glaube, du hast ein Problem mit der Nutzung digitaler Medien. Ich denke, du bist abhängig davon.“ Man sollte den Betroffenen dann motivieren, professionelle Hilfe zu suchen.

Wie kann man den Menschen klar machen, dass sie ein Problem haben?

Indem man sagt: „Ich merke, dass du dich immer mehr zurückziehst. Ich mache mir Sorgen.“ Das gilt besonders auch dann, wenn die schulischen Leistungen schwächer werden. Oder wenn es im Beruf schlechter läuft. Die Betroffenen sind häufiger krank, weil der Schlaf zu kurz kommt, wenn man die halbe Nacht vor dem Computer oder am Handy verbracht hat. Das sind auch wichtige Hinweise auf eine Online-Sucht.

No Mobile Phone“-Phobie: Angst, etwas zu verpassen
©daria-nepriakhina/unsplash.com

No Mobile Phone“-Phobie: Angst, etwas zu verpassen

Wie unterscheidet sich die Online-Sucht von anderen Süchten wie Alkohol- oder Spielsucht?

Es gibt viele Ähnlichkeiten zu anderen Suchterkrankungen, wie zum Beispiel der Kontrollverlust. Es ist ganz typisch, dass die süchtige Person länger online ist, als sie es sich eigentlich vorgenommen hat. Bei den Smartphones kann man die am Bildschirm verbrachte Zeit mittlerweile ja ganz schnell abrufen. Wenn das mehr als acht Stunden am Tag sind, dann ist das schon auffällig. Es kann dem Betroffenen die Augen öffnen, wenn man sich das gemeinsam ansieht. Vier bis fünf Stunden am Tag (mit dem Smartphone, Anm. der Red.)  online zu sein, ist heute eigentlich schon normal, wenn man die Bearbeitung von E-Mails, das Googeln oder Filme auf Youtube oder Netflix anschauen mit einbezieht. Aber auch acht Stunden am Tag sind keine Seltenheit.

Gibt es andere Parallelen?

Eine weitere Ähnlichkeit neben dem Kontrollverlust ist das Gefühl, dass die Internetnutzung für den Süchtigen mit der Zeit immer weniger befriedigend ist. Deshalb wollen sie ja immer mehr davon. Am nächsten Tag bereuen es die Betroffenen und sagen, sie seien viel zu lange online gewesen, sie nehmen sich vor, sich einzuschränken, aber es gelingt ihnen trotz negativer Konsequenzen wie Schlafmangel und Konflikten mit ihren Bezugspersonen nicht. Ein großer Unterschied zu anderen Süchten ist, dass eine Abstinenz bei Online-Sucht unmöglich ist. Sie können nicht wie bei der Alkoholsucht oder der Spielsucht aufhören zu trinken oder zu spielen. Online-Abstinenz ist in unserer Gesellschaft ein absolut unrealistisches und ja auch unerwünschtes Ziel. Es geht vielmehr darum zu lernen, kompetent mit den Medien umzugehen. Das bedeutet, die Kontrolle wiederzuerlangen, Medien gezielt zu nutzen und die Bereiche, die man zu intensiv genutzt hat, zu meiden.

Das ist dann wahrscheinlich besonders schwierig?

In der Therapie verwenden wir das Ampelmodell, bei dem drei Bereiche gemeinsam mit dem Therapeuten definiert werden. Der rote Bereich ist der No-Go-Bereich, der nie wieder benutzt werden darf. Das sind beim Online-Spieler zum Beispiel die Spiele, die er exzessiv gespielt hat. Gelb ist der Bereich, der unter gewissen Voraussetzungen genutzt werden darf – zeitlich begrenzt oder unter Aufsicht oder Begleitung. Der grüne Bereich ist offen und frei zugänglich. Es müssen also Bereiche festgelegt werden, die gefährlich, weniger gefährlich oder ungefährlich sind.

Ein anderer Unterschied ist, dass es keine körperliche Abhängigkeit gibt.

Richtig, eine körperliche Abhängigkeit gibt es bei der Online-Sucht nicht. Es ist eine stoffungebundene Sucht, aber es gibt sehr wohl eine psychische Abhängigkeit. So hat sich zum Beispiel der Begriff der „No Mobile Phone“-Phobie etabliert. Der beschreibt die Angst, etwas zu verpassen, wenn man das Handy nicht dabei hat. Dabei entwickeln die Betroffenen Entzugserscheinungen, leiden unter Unruhe, Schlafstörungen und Angstzuständen. 

Betroffene sind häufiger krank, weil der Schlaf zu kurz kommt.

Betroffene sind häufiger krank, weil der Schlaf zu kurz kommt.

Wann genau spricht man denn von Sucht?

Es ist natürlich oft nicht leicht, eine Grenze zu ziehen. Wir alle nutzen digitale Medien und die Nutzung nimmt ständig zu. Aber die meisten von uns können unterscheiden, was wirklich wichtig ist und was nicht. Wir wissen, dass persönliche Kontakte wertvoller sind als virtuelle. Einige Menschen haben aber Probleme damit, zum Beispiel, weil sie soziale Ängste haben. Daher flüchten sie sich immer mehr in die Online-Welt, die einfach unverbindlicher ist.

Ist die Online-Sucht ein Zeichen für ein tieferliegendes psychologisches Problem?

Mit Sicherheit steckt häufig ein anderes Problem dahinter. Unter Online-Sucht leiden häufig schüchterne Menschen, die in der realen Welt einen roten Kopf bekommen, wenn sie jemanden ansprechen sollen, die sich in Gesellschaft schwertun, die unsicher sind und häufig nur ihre Schwächen sehen. In der virtuellen Welt können sie sich einfach gut verstecken oder anders darstellen. Bei Online-Spielen zum Beispiel wählen sie sich einen Avatar, der Superkräfte hat. So haben sie online positivere Erlebnisse als in der wirklichen Welt. Das macht die virtuelle Welt so verlockend. Schüchterne Menschen hat es zwar schon immer gegeben, aber sie haben sich irgendwie in der Welt zurechtgefunden. Sie haben durch Übung gelernt, ihre Ängste zu überwinden. Das Online-Angebot macht es ihnen heute sehr leicht, sich ihrem Problem nicht stellen zu müssen. Es verstärkt diese Probleme sogar noch, sodass die Betroffenen in der realen Welt immer schlechter zurechtkommen.

Beobachten Sie, dass in Corona-Zeiten, in denen Menschen angehalten sind, zu Hause zu bleiben und möglichst niemanden zu treffen, die Online-Sucht zunimmt?

Zunächst einmal hat in der Zeit des Lockdowns das Online-Angebot ja auch geholfen, mit anderen in Kontakt zu bleiben – über Social Media oder über Videotelefonie. Auch im Familienkreis hat man über Skype kommuniziert. Das ist durchaus positiv zu bewerten. Ich habe aber gehört, dass viele Menschen, die vorher schon anfällig waren, jetzt noch mehr in die Online-Welt geflüchtet sind. Viele Eltern haben angerufen, die sich Sorgen machen, weil ihr Sohn, der nicht mehr in die Schule gehen muss, den ganzen Tag und die halbe Nacht vor dem Rechner sitzt. Ich erwarte, dass es hier zeitverzögert einen Effekt geben wird und dass wir nach Corona sicher eine Zunahme bei den Betroffenen erleben werden.

Wer ist besonders anfällig?

Das sind eher junge Menschen als ältere. In der Zeit des Erwachsenwerdens sind junge Menschen oft sehr unsicher, müssen und wollen auch viel ausprobieren. Da bietet das Internet alle Möglichkeiten. Sie können in verschiedene Rollen schlüpfen, sich anders darstellen. Deswegen sind junge Menschen stärker gefährdet. In sozialen Netzwerken sind es primär die Mädchen. Bei den Online-Spielen sind es meistens junge Burschen, die dort miteinander wetteifern, Mut und Stärke messen, sich anderen gegenüber behaupten. Das Kompetitive gibt es bei den Mädchen auch, aber bei den Vergleichen geht es eher um Aussehen oder Kleidung.

Gibt es eine Faustregel, sodass man sagen kann, X Stunden sind ganz normal, darüber hinaus ist es zu viel?

Das über die Online-Zeit allein festzulegen, ist schwer. Klar jedoch ist, je jünger der Nutzer, umso mehr sollte die Nutzung beschränkt werden. Kinder haben diese Selbstkontrolle nicht, sie sagen nicht von sich aus Stopp. Eltern sollten die Zeit also kontrollieren. Bei einem zwölfjährigen Kind reicht wahrscheinlich eine Stunde Smartphone-Nutzung am Tag. Bei einem 13-Jährigen zwei bis drei Stunden, bei einem 16-Jährigen drei Stunden. Bei den Älteren kann man es wahrscheinlich ohnehin nicht mehr kontrollieren. Ich gebe Familien den Tipp, handyfreie Zonen zu schaffen. Beim Essen am Familientisch etwa sollte es keine Handys geben. Und vor dem Schlafengehen wird das Handy aus dem Zimmer geholt und draußen aufgeladen. Bei Jugendlichen kann man auch eine handyfreie Zeit festlegen, zum Beispiel: Nach 21 Uhr ist Schluss. Grundsätzlich sollten sich Eltern aber nicht nur für die online verbrachte Zeit interessieren, sondern vor allem auch dafür, was ihre Kinder eigentlich mit dem Computer oder Handy machen. Am besten, sie setzen sich gemeinsam mit den Kindern hin und lassen sich zeigen, was ihre Kinder online tun.

Junge Männer sind besonders anfällig für Online Spiele.

Junge Männer sind besonders anfällig für Online Spiele.

Aber auch bei Erwachsenen kann Online-Sucht ein Thema sein? 

Es gibt auch immer mehr ältere Menschen, die soziale Medien für sich entdecken und ein problematisches Verhalten entwickeln. Bei Menschen, die zum Beispiel Angststörungen haben, besteht eine gewisse Gefahr, dass sie eine Online-Sucht entwickeln. Wir haben auch ältere Patienten bei uns auf der Station: Frauen, Mitte 30, die abhängig sind von Social Media. Oder 40-jährige Männer, die exzessiv online spielen. Wobei es bei Männern meist Online-Pornografie ist, die sie süchtig macht.

Wie kann man der Online-Sucht vorbeugen? 

Ich möchte zunächst einmal alle Eltern beruhigen. Auch bei Jugendlichen, die wirklich intensiv online spielen, verliert sich die Faszination in aller Regel wieder. Es ist eine Phase, die vorbeigeht. Man sollte es nicht von vorneherein dramatisieren. Man sollte aber seinem Kind sagen, „ich passe jetzt hier mal ein bisschen auf, ich beobachte, was du machst, und melde dir dann zurück, wie ich das finde.“ Wenn die Betroffenen aber weiter am realen Leben teilnehmen, mit zum Familienausflug gehen, Freunde treffen, sollte man gelassen bleiben. Das Online-Leben sollte nur eine Ergänzung sein, aber nicht das reale Leben ersetzen. Das muss man im Blick haben und gemeinsame reale Aktivitäten planen, damit das nicht passiert.

Und Eltern sollten mit gutem Beispiel vorangehen?

Richtig. Ich habe ein schlechtes Beispiel in der U-Bahn beobachtet. Dort saßen eine Mutter und ihre Tochter und beide starrten wie die meisten auf ihr Handy. Die Mutter sagte zu dem Kind, „jetzt tu doch endlich mal das Handy weg“. Und die Tochter steckte das Handy in die Tasche und die Mutter schaute weiter auf ihren Bildschirm. Da sage ich: Genauso soll es nicht sein. Aber es passiert, das kann man beobachten.

Haben Sie noch einen Tipp für Erwachsene?

Die digitale Welt ist Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens geworden. Das ist heute einfach Realität. Solange man das reale Leben nicht vernachlässigt, ist das kein Drama. Doch es braucht Wachsamkeit und Aufmerksamkeit, dass wir uns nicht vollständig in die virtuelle Welt hineinziehen lassen. Die Verführung ist natürlich sehr groß. Mein Rat lautet also: Legen Sie doch einmal einen digital-freien Tag ein. Lassen Sie das Handy zu Hause, unternehmen Sie etwas Schönes. Und am Abend können Sie dann wieder auf Ihr Handy schauen und Sie werden feststellen, dass Sie nichts Lebenswichtiges verpasst haben.

Zur Person: 
Roland Mader ist Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin. Seit 1991 arbeitet er am Anton Proksch Institut in Wien und leitet hier die Abteilung für Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit sowie einen Schwerpunkt für stoffungebundene Abhängigkeiten. Hier findet ein stationäres Therapieangebot für pathologisches Glücksspiel und Online-Sucht statt. Seit April 2018 ist Roland Mader Leiter der Sektion Sucht der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. Weiters ist er Vorstandsmitglied im Kriseninterventionszentrum.