Gemeinsam statt einsam -
mit 90 in die WG

Der demografische Wandel führt in Österreich zu neuen Wohnformen. Gemeinsames Wohnen ist angesagt, ob Ältere unter sich oder mehrere Generationen unter einem Dach. Ein Beispiel: die Wohngemeinschaften für Seniorinnen und Senioren vom Arbeiter-Samariter-Bund Österreichs in Wien.

Gugelhupfessen am Kapaunplatz
©Samariterbund/C. Lipinsky

Gugelhupfessen am Kapaunplatz

Anna B. ist 90. Wer meint, in ihrem Alter wagt man nichts Neues mehr, der irrt. Vor wenigen Monaten ist die alte Dame in eine WG gezogen. Es handelt sich um eine Wohngemeinschaft des Arbeiter-Samariter-Bund Österreichs speziell für Seniorinnen und Senioren in Wien. In der großen ebenerdigen und barrierefreien Wohnung im Helene-Thimig-Weg im 23. Bezirk hat sie ein eigenes Zimmer mit Bad und WC. Ihr kleines Domizil führt direkt in einen dazugehörigen Garten. Mit fünf weiteren Mitbewohnern teilt sich die gelernte Schneiderin eine große Gemeinschaftsküche, einen Essbereich und ein Wohnzimmer mit Sofa und TV-Gerät. Seit ihr Mann vor zehn Jahren verstorben ist, hat Anna B. allein gelebt und sich einsam gefühlt. Das ist nun vorbei.

Jeder kann so leben, wie er möchte

Mit neuen Wohnformen wird in Österreich auf den demografischen Wandel reagiert. Und immer mehr ältere Menschen ziehen ein gemeinsames Wohnen dem Alleinleben vor. Wohngemeinschaften, Mehr-Generationen-Häuser oder Seniorendörfer bringen Menschen zueinander. Gemeinsam statt einsam lautet die Devise. Ein Beispiel sind die Wohngemeinschaften des Arbeiter-Samariter-Bund Österreichs (ASB). „Wir haben 2012 die erste Senioren-WG gegründet“, sagt Susanne Kritzer, Pressesprecherin des ASB Wien. Inzwischen zählt der Bund fünf Wohngemeinschaften in Wien. „Hier leben die Bewohnerinnen und Bewohner eigenständig, selbstbestimmt und gemeinsam“, erklärt Susanne Kritzer. Im Grunde könne jeder leben wie er möchte, aufstehen, wann er wolle, kochen und essen, wie es ihm beliebe. Das Miteinander ist kein Zwang, sondern freiwillig. „Man muss nicht gemeinsam essen oder etwas unternehmen, kann es aber“, betont die Pressesprecherin. Vieles ergebe sich einfach aus der Gemeinschaft heraus.

Es können Singles oder Paare einziehen

In den Wohnbereichen leben fünf bis maximal acht ältere Menschen, Singles oder Paare. Für zwei Personen besteht in manchen WGs die Möglichkeit, gemeinsam ein extra großes Zimmer zu beziehen. Die Zimmer sind zwischen 21 bis 36 Quadratmeter groß und mit einem höhenverstellbaren Bett, Nachtkästchen, einem eingebauten Kleiderschrank, Tisch und Sessel eingerichtet. Zusätzlich hat jeder die Möglichkeit, sein Zimmer mit eigenen Kleinmöbeln nach seinem Geschmack zu ergänzen. Alle WGs haben für die gemeinsame Nutzung eine große Küche, einen Essbereich sowie einen Wirtschaftsraum mit Waschmaschinen und Wäschetrockner. Je nach Wohnung gibt es einen abgetrennten Sitzbereich mit Fernseher oder sogar einer Bibliothek. Alle WGs verfügen entweder über Gemeinschaftsterrassen, -balkone oder – gärten, in denen die Bewohner mit Unterstützung vom ASB in Wien gemeinsam Beete anlegen. Darüber hinaus hat so gut wie jedes Zimmer einen eigenen Balkon oder Zugang zur Terrasse. Die monatlichen Kosten bewegen sich je nach Zimmergröße zwischen 470 bis 760 Euro. Darin enthalten sind Heizung, Wasser, Strom, TV-Gebühren, Internetzugang, Heimnotruf, Haustechnik sowie eine wöchentliche Reinigung der Gemeinschaftsräume.

Gesellschaft tut den Bewohnern gut

Spiele-Nachmittag in der WG am WG Helene-Thimig Weg
©Samariterbund/C. Lipinsky

Spiele-Nachmittag in der WG am WG Helene-Thimig Weg

Ein- bis zweimal pro Woche sind Mitarbeiter vom Samariterbund in Wien in jeder WG vor Ort und bieten Gedächtnistrainings- und Spielnachmittage an. Außerdem finden verschiedene Aktivitäten wie Lesungen und Spaziergänge in der Gruppe oder mit einzelnen Bewohnern statt. Anna B. geht an einem Rollator. Bevor sie in die WG gezogen ist, hat sie sich nicht mehr allein vor die Tür getraut, sich mehr und mehr in sich zurückgezogen und verschlossen. „In der WG ist sie richtig aufgeblüht“, sagt Susanne Kritzer. „Sie geht in den Garten, hat Freundschaften geschlossen, geht mit anderen spazieren und ist richtig gesprächig geworden.“ Gesellschaft tut der alten Frau sichtlich gut, und das nach nur wenigen Monaten. Die Erfahrungen der Bewohner in den WGs seien insgesamt sehr gut, so die ASB-Pressesprecherin. Sie seien aktiver, würden sich mehr zutrauen und mehr Lebensfreude verspüren. Ein weiterer Effekt des Zusammenlebens: Einer hilft auch mal dem anderen.

Den Alltag selbstständig bewältigen

Welche Voraussetzungen die Menschen erfüllen müssen, um in eine WG einziehen zu können? „Ganz wichtig ist ein Gemeinschaftssinn“, antwortet Susanne Kritzer. „Sie sollten außerdem grundsätzlich in ihrem Alltag selbstständig zurechtkommen.“ Bewerber müssen mindestens 60 Jahre alt sein und dürfen bis Pflegestufe 3 haben. Ausgeschlossen sind Personen, die an Demenz oder einer psychischen Erkrankung leiden. Darüber hinaus muss gewährleistet sein, dass sie die Mietkosten tragen können. Wird Betreuung benötigt, dann kann beim Fonds Soziales Wien (FSW), einer städtischen Einrichtung für den Gesundheits- und Sozialbereich, eine Förderung beantragt werden. „Mithilfe des FSWs suchen wir auch eine geeignete Unterbringung, wenn ein WG-Bewohner pflegebedürftig wird oder so erkrankt, dass er eine intensive Betreuung benötigt“, erklärt die Wiener Pressesprecherin.

Das Interesse an den Senioren-WGs ist groß. Die Wartezeit variiert zwar abhängig von der gewünschten WG, im Schnitt beträgt sie etwa ein halbes Jahr. Besteht Interesse und ist ein WG-Zimmer frei, wird zunächst ein Gespräch mit der Fachbereichsleiterin Hermine Freitag und eine Besichtigung vereinbart. Danach erfolgen Treffen mit allen WG-Bewohnern, einmal mit und einmal ohne Frau Freitag. „Es müssen alle Bewohnerinnen und Bewohner zustimmen, dass die Person einziehen kann“, betont Susanne Kritzer. „Er muss in die Gemeinschaft passen, damit steht und fällt alles.“ Sind sich alle einig, so zieht der Interessent in die Gemeinschaft ein. Er hat die Möglichkeit, seine Entscheidung innerhalb eines Probemonats zu überdenken.

links: unbewohntes Einzelzimmer WG Helene Thimig Weg, rechts: Küche/Wohnzimmerecke, WG Braunhubergasse
©Samariterbund/C. Lipinsky

links: unbewohntes Einzelzimmer WG Helene Thimig Weg, rechts: Küche/Wohnzimmerecke, WG Braunhubergasse

Konflikte schlichten

Das Zusammenleben von Menschen ist nie konfliktfrei. „Eines der klassischen Probleme ist die Sauberkeit in der Küche“, berichtet Susanne Kritzer. Einer lässt benutztes Geschirr stehen, anstatt es in den Geschirrspüler zu räumen. Oder im Kühlschrank geraten Nahrungsmittel in Vergessenheit. In den WGs wird jedoch großer Wert auf Sauberkeit gelegt. In diesen Fällen würde die Leiterin der ASB-Wohnbereiche individuelle Gespräche mit den betroffenen Bewohnern führen, um die Situation zu klären. „Vertrauen und eine gute Kommunikation sind das ,A und O‘ bei der Klärung von Konflikten.“ Hin und wieder muss auch an die Rücksicht auf unterschiedliche Bedürfnisse appelliert werden. So mögen einige Bewohner zum Beispiel Radio oder TV auf voller Lautstärke. „Wenn jemand lange allein gelebt hat, ist eine WG schon eine Umstellung“, sagt Susanne Kritzer.

Die beste Entscheidung im Leben

Anna B. hat sich schnell für das Zimmer in der WG im Wiener Helene-Thimig-Weg entschieden und sich auch gut eingelebt. Alle zwei Wochen kommt eine ihrer zwei Töchter oder Enkel zu Besuch. Dann sitzt sie mit Familie und einigen Bewohnern an der Kaffeetafel im gemeinsamen Essbereich. Sie sagt: „Der Einzug in die WG war die beste Entscheidung in meinem ganzen Leben.“

Lesetipp: 
Was du beachten solltest, wenn du wärend der Pension weiterarbeitest liest du in unserm Artikel Dazuverdienen im Alter – Wo liegen die Grenzen