„Ein Menschenleben ist wichtiger“

Er wollte den höchsten Berg der Welt erklimmen und die Grenzen seiner eigenen Möglichkeiten austesten. Stattdessen machte Rupert Hauer in der dünnen Höhenluft des Mount Everest die Erfahrung, wie es ist, unter Einsatz des eigenen Lebens einen Menschen zu retten. Das Erlebnis hat ihn bis heute geprägt.

Rupert Hauer auf dem Denali (6.193 m)
©Rupert Hauer

Rupert Hauer auf dem Denali (6.193 m)

Monatelang hatte er sich darauf vorbereitet. Rupert Hauer, heute 48,  wollte 2013 ganz allein und ohne zusätzlichen Sauerstoff den Gipfel des Mount Everest erreichen. Die 8.848 Meter des höchsten Berges der Erde im Himalaya-Gebirge Nepals bezwingen zu wollen ist ein Unternehmen für Verrückte, für Abenteurer, für Gottsucher und für Selbstfinder. 1978 gelangten Reinhold Messner und Peter Halberer erstmals ohne künstlichen Sauerstoff hinauf. Auch Rupert Hauer, der Alpinpolizist und Bergführer aus Mauterndorf im Lungau, wusste: „Der Everest bedeutet, Grenzen zu verschieben.“ Wer von diesem Berg zurückkehrt, ist ein anderer Mensch. Hauer kam nicht bis zur Bergspitze empor. Und doch sagt er: „Für mich war es die wertvollste Erfahrung überhaupt.“ Denn was er dort erlebte, zittert bis heute in ihm nach.

Es ist ein Uhr früh am Pfingstmontag, den 20. Mai 2013, als er in 8.300 Höhenmetern vom Lager drei aus zum Gipfel aufbricht. Ab 7.000 Metern gilt der Everest unter Bergsteigern als „Todeszone“, weil in diesen Höhen der kritische Sauerstoffpartialdruck in den Lungenbläschen  unterschritten wird. Der Körper baut ab, der Tod durch Höhenkrankheit droht, ein Überleben bei mehr als 48 Stunden Aufenthalt gilt als extrem unwahrscheinlich. Hauer ist völlig auf sich gestellt. Kein Bergkamerad, kein Sherpa begleitet ihn. Sollte er zusammenbrechen, könnte dies sein Ende bedeuten.

Zwei Stunden zuvor war die Amical-Gruppe aufgestiegen. In etwa 8.700 Metern Höhe kommen ihm Mitglieder der Gruppe entgegen, die auf dem Rückweg sind. Sie berichten Hauer, dass alle auf dem Gipfel waren, aber ein Amerikaner erblindet sei und Probleme beim Abstieg hätte. Wenig später trifft Hauer auf den US-Bergsteiger und seinen Sherpa. Es sind noch gut einhundert Höhenmeter bis zum Gipfel. Der Verletzte hatte seine vereiste Brille abgenommen. Trotz Dunkelheit blies ihm der ständige Wind die ungeschützten Augen blind.

Hauer merkt sofort, dass der Mann es ohne Hilfe nicht lebend zurückschaffen würde. Er entscheidet sich gegen den weiteren Aufstieg auf den Everestgipfel und hilft dem Blinden stattdessen über Kletterstellen und absturzgefährdete Bereiche zurück ins Hochlager. Trotz der vorhandenen Fixseile war es eine höchst anstrengende Rettungsaktion. Auch Hauer bekam Probleme mit den Augen, fing sich Erfrierungen an der Nase ein. Deshalb verzichtete er auf einen erneuten Aufstieg, sondern schlug in der nächsten Nacht weiter unten auf 7.000 Metern sein Zelt auf.

„Vier Leichen, die ich beim Aufstieg gesehen habe, sind Mahnung genug“, erinnert er sich. Kurze Zeit später reist er über Kathmandu zurück nach Österreich, um die Nase ärztlich versorgen zu lassen. „Sie ist gut verheilt, aber ein Stück kürzer geworden“, sagt er heute. In seinem Blog schrieb er damals: „Das Wetter hätte gepasst für eine erfolgreiche Gipfelbesteigung, aber ein Menschenleben ist wichtiger.“ In diesen Worten schwingt mit, wie schwer es Hauer fiel, seinen großen Traum fallen zu lassen.

©Rupert Hauer

Trotzdem würde er jederzeit wieder so handeln. Auch wenn er sich dabei selbst in Gefahr begibt. „In solchen Momenten denkt man nicht an das eigene Risiko.“ Früher gehörte diese Einstellung zum Bergsteiger-Ethos: „Wenn jemand Hilfe braucht, dann helfe ich, wenn ich kann.“ Bergsteigen, so Hauer, „ist kameradschaftlicher gewesen als ich Anfang der neunziger Jahre angefangen habe.“ Heute seien Bergsteiger egoistischer geworden – wie in der Gesellschaft insgesamt. „Es zählt nur noch Leistung.“

In seiner Kindheit zählten noch andere Werte. Geboren wurde er 1969 in Mauterndorf, wo er noch immer lebt. Seine Eltern hatten ein Schuhgeschäft, nebenan war ein Bauernhof. „Wir Kinder haben viel Spaß gehabt und uns geborgen gefühlt.“ Zum Bergsteigen kam er erst mit 26, als er zur Alpinpolizei ging. Heute ist er Leiter seines Bezirks. Er liebt die „vielen unterschiedlichen Tätigkeiten, ich sitze nicht nur im Büro. Wenn ich morgens den Dienst antrete, weiß ich nie, was mich heute erwartet.“

Der geschiedene Vater von zwei Töchtern (23 und 19) ist heilfroh, „dass ich vom Bergsteigen nicht leben muss. Sonst müsste ich mich vermarkten.“ Stattdessen ist der Polizist nebenher Bergführer und Bergretter. „Früher hat man auf dem Berg nur angenehme Leute erlebt, heute sind die Berge überfüllt mit Touristen, die kommerzielle Leistungen gebucht haben.“ Dennoch zieht es ihn immer wieder hinauf. „Auf dem Berg ist es immer noch ruhiger als im Tal. Dort oben kann man wunderbar alles vergessen und zur inneren Ausgeglichenheit gelangen. Aber man merkt eben auch, dass die Hektik in die Berge aufsteigt.“