„90 Prozent meiner Gänsehautmomente stammen aus der Musik“

Mit zehn Jahren wurde bei ihm eine einseitige Taubheit festgestellt. Kurz darauf verschlechterte sich auch sein rechtes Ohr. Heute ist Sebastian Fehr taub und kann trotzdem hören – dank einem Cochlea-Implantat.

Für Sebastian Fehr ist ein Leben ohne Musik kaum vorstellbar: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, wie es Nietzsche schon sagte, und ich stimme ihm vollkommen zu.“

Für Sebastian Fehr ist ein Leben ohne Musik kaum vorstellbar: „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, wie es Nietzsche schon sagte, und ich stimme ihm vollkommen zu.“

Als Kleinkind galt Sebastian Fehr als patschert, wie man in Tirol sagt: tollpatschig. Er beginnt erst spät zu laufen, hat Probleme mit dem Gleichgewicht, bricht sich gar sechsmal den rechten Knöchel. „Ich galt deshalb schon früh als ‚verhaltensauffälliges‘ Kind“, berichtet der heute 30-Jährige. Die mögliche Ursache dafür wird erst erkannt, als Sebastian bereits zehn Jahre alt ist. Bei einem Hörtest stellen die Ärzte eine einseitige Taubheit fest. Sebastian hört links nichts. Plötzlich wird klar, warum er kaum einordnen kann, aus welcher Richtung ein Geräusch kommt. Denn für das Richtungshören braucht es beide Seiten. „Auch der späte Geherfolg lässt auf eine pränatale Hörstörung schließen, da diese oft mit Gleichgewichtsstörungen einhergeht“, erklärt der Tiroler.

Die Diagnose ist kaum verarbeitet, da verschlechtert sich auch das rechte Ohr. Nach einem Hörsturz muss der inzwischen Elfjährige zahlreiche Untersuchungen und Hörtests über sich ergehen lassen – immer mit der Sorge, dass sich die Werte weiter verschlechtert haben könnten. „Es war wie eine Prüfungssituation, in der ich nur verlieren konnte“, erinnert sich Fehr. Am Schlimmsten war für ihn die Ungewissheit. „Kein Arzt konnte mir damals genau sagen, wo der Hörsturz herkommt und ob es wieder passieren kann. Niemand konnte mir genau erklären, was mit mir passiert. Das war sehr zermürbend.“ Hinzu kommt der fehlende Austausch zu anderen Betroffenen. „Ich war damals offensichtlich der einzige hörgeschädigte Elfjährige in Tirol“, berichtet Fehr. Ende der 90er Jahre gibt es noch kein Facebook, kein WhatsApp, auch die Informationslage im Internet ist damals noch viel dürftiger als heute. „Die heutige Jugend ist sicher online besser vernetzt.“ So aber fühlt sich Sebastian einsam, die erschwerte Kommunikation macht ihn zunehmend zum Einzelgänger.

Die Erwachsenen waren überfordert

Hinzu kommt, dass auch die Erwachsenen mit der Situation überfordert sind. Statt ihn zu unterstützen, will der Schuldirektor den Jungen mit dem tauben Ohr auf eine Sonderschule drängen. Sebastian aber bleibt auf der Regelschule, mit der Folge, dass ihm seine Lehrer das Leben nicht einfacher machen. Statt sich auf ihn einzustellen, wird der lebhafte Junge als lästig abgestempelt. Kommunikationsregeln, die Sebastian das Verstehen hätten erleichtern können, werden schlicht missachtet. So läuft die Lehrerin beim Diktat durch das Klassenzimmer, statt vorne am Pult zu stehen. Wer aber schlecht hört, braucht häufig das Mundbild zur Unterstützung. Denn das Gesprochene von den Lippen abzusehen, hilft das Gehörte leichter zu verstehen – im Frontalunterricht, der damals noch Standard ist, eigentlich kein Problem. Als Sebastian am Ende des Diktats ein leeres Blatt abgeben muss, weil er akustisch nichts verstanden hat, wird er zum Direktor geschickt und bestraft. Vorfälle wie diese sind in Sebastians Schulzeit eher die Regel als Ausnahme. Es klingt wie aus einer anderen Zeit und ist doch keine 20 Jahre her.

Trotz aller Hindernisse schafft Sebastian, wissbegierig, wie er ist, den Hauptschulabschluss mit soliden Noten, was vor allem an seinen guten schriftlichen Noten liegt. Auch die Handelsschule und die anschließende Ausbildung zum Versicherungs- und Bürokaufmann schließt Sebastian Fehr erfolgreich ab und arbeitet schließlich – bis heute – beim Land Tirol. Da er in der Schulzeit kaum Freunde hat, sucht er Zuflucht in Büchern – und in der Musik. Bereits mit vier Jahren lernt er das Flügelhorn zu spielen. Abgesehen von einer dreijährigen Musikpause, sein HNO-Arzt drängte ihn, das Trompetespielen aufzugeben, begleitet ihn das Musizieren auch heute noch. „90 Prozent der Gänsehautmomente in meinem Leben stammen aus der Musik. Ich durfte trotz meiner Hörstörung so viele schöne Dinge hören und auch selbst spielen“, erklärt Fehr.  

Dank CI: Taub und trotzdem hören

Eine Sache der Gewöhnung: Nach der CI-Operation hat Sebastian Fehr viel trainiert, um sich an die neuen Höreindrücke zu gewöhnen.

Eine Sache der Gewöhnung: Nach der CI-Operation hat Sebastian Fehr viel trainiert, um sich an die neuen Höreindrücke zu gewöhnen.

Als er im Sommer 2016 auf der Bühne einen weiteren Hörsturz erleidet, scheint es mit dem Musizieren jedoch endgültig vorbei. Er hört nun so schlecht, dass er sogar an Suizid denkt – bis er sich schließlich für ein Cochlea-Implantat (CI) entscheidet. Es ist für ihn der rettende Weg. Denn die Innenohr-Prothese ermöglicht es, dass akustische Signale über einen Sprachprozessor und eine Elektrode an den Hörnerv weitergeleitet werden. Dadurch können nicht nur Geräusche gehört, sondern auch Sprache wieder verstanden und in manchen Fällen sogar Musik wieder genossen werden.

Doch zunächst ist Sebastian Fehr nach der Operation für zwei Wochen komplett taub. „Das war schon eine extrem intensive Zeit. Ich konnte nur schreibend kommunizieren und ich wusste ja auch nicht, wie das Ganze ausgehen würde“, erinnert sich Fehr. In dieser Zeit zieht sich der sonst offene und hilfsbereite Tiroler komplett zurück. Erlösung bringt die ersehnte Erstanpassung des Cochlea-Implantats. Sebastian Fehr versteht Gesprochenes bereits nach dem ersten Einschalten des Sprachprozessors, dem außenliegenden Teil des Cochlea-Implantats. Kurz darauf kann er sogar schon wieder telefonieren.

Lebenslange Nachsorge: Training ist wichtig

Dennoch liegt zu diesem Zeitpunkt noch ein langer Weg vor ihm. Denn ein Implantat „heilt“ die Taubheit nicht, eine lebenslange Nachsorge und viel Training sind notwendig, damit das Gehirn Gehörtes auch richtig verarbeiten kann. Und auch dann noch gerät man mit einem Cochlea-Implantat – bei allem anhaltenden technischen Fortschritt – immer wieder an seine Grenzen. Laute Umgebungen erschweren die Kommunikation. Große Tischrunden im Restaurant hören sich so schnell an wie ein einziger „Stimmbrei“. Und auch Hörpausen sind wichtig, um die enorme Konzentrationsleistung, die das Hören mit einem CI erfordert, auszugleichen.

Dank zahlreichen Therapiestunden und einem Reha-Aufenthalt in Deutschland speziell für CI-Träger kann Sebastian Fehr sein Sprachverstehen binnen kürzester Zeit verbessern und hört schließlich besser als in seiner Jugend mit Hörgerät. Und auch das Musizieren ist wieder möglich, auch wenn der Klang anfangs noch erschreckend metallisch klang. „Mein Hirn brauchte Zeit, sich an die neuen Höreindrücke zu gewöhnen und sie richtig zu interpretieren“, erinnert sich Fehr. Die Mühe aber war es wert: „Durch das CI bin ich ein neuer Mensch geworden“, sagt Fehr heute.

Musizieren mit CI – auch das geht

Trompetespielen mit CI: In Vorträgen macht Sebastian Fehr auch anderen Hörgeschädigten Mut, sich wieder an die Musik zu wagen.

Trompetespielen mit CI: In Vorträgen macht Sebastian Fehr auch anderen Hörgeschädigten Mut, sich wieder an die Musik zu wagen.

Um dieses Gefühl und seine Erfahrungen mit anderen Betroffenen zu teilen, aber auch, um über Hörschädigung aufzuklären und das Erlebte selbst zu verarbeiten, startete Sebastian Fehr im Sommer 2017 einen Blog. Auf fehrhoert.com, einem Wortspiel aus seinem Nachnamen und seinen Hörerfahrungen, schreibt er über Alltagssituationen, erklärt, warum der Satz „Passt schon“ eben nicht passt, wenn er in einem Gespräch mal etwas nicht verstanden hat, und schildert seinen Hör-Werdegang. „Es ist eine Mischung aus Selbsttherapie und Sensibilisierung. Ich versuche, Erlebtes niederzuschreiben, und mir geht es danach oft besser“, sagt der Tiroler. Sein Blog füllt damit auch eine Lücke im Tiroler Raum. Denn die Selbsthilfe, gerade für junge Menschen wie ihn, ist hier kaum vertreten. „Eine Hörstörung ist in Tirol immer noch Tabuthema“, erklärt Fehr. Dabei stärkt der Austausch mit anderen Betroffenen ungemein, ist man für eine Zeit lang doch nicht der einzige mit einer Hörschädigung. „In Deutschland ist man da mit der DCIG und dessen Jugendnetzwerk Deaf Ohr Alive sowie der HCIG wesentlich besser organisiert.“

Auch seine Leidenschaft, die Musik, verfolgt der umtriebige Mann inzwischen wieder mit viel Einsatz. Hatte er 2016 noch alle seine Instrumente verkauft, weil er dachte, sie nicht mehr nutzen zu können, spielt Sebastian Fehr heute gleich in mehreren Musikformationen, hält Vorträge zum Thema Musizieren mit CI und bereitet sich auf das Musikschuldiplom vor. Mit seiner Tanzmusikgruppe „Die AusHALLtigen“ konnte er 2018 sogar den Musikwettbewerb „Beats of Cochlea“ in Warschau unter ca. 300 Bewerbungen gewinnen und sicherte sich dadurch einen Platz in der begehrten Finalshow, welche im polnischen Staatsfunk ausgestrahlt wurde. „Die AusHALLtigen“ proben darüber hinaus gerade für eine CD-Produktion mit vielen Eigenkompositionen – die Aufnahmen erfolgen im Frühsommer 2019. Wenn alles klappt, wäre Sebastian Fehr damit der weltweit erste CI-tragende Blasinstrumentalist, der eine CD produzieren konnte.„Um es kurz zu machen: Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, wie es Nietzsche schon sagte, und ich stimme ihm vollkommen zu“, strahlt er.